Verurteilt zum Weiterleben

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Welchen Wert hat das Leben? In Kindeswohl lotet der große britische Schriftsteller Ian McEwan die Widersprüche unserer Zeit aus: Ein Roman über Glaube und Gesetz, Recht und Gerechtigkeit, Freiheit und Verantwortung.

Ich bekenne sofort: Der britische Schriftsteller Ian McEwan (*1948) gehört zu meinen Lieblingsautoren. Noch nie hat mich eines seiner Bücher wirklich enttäuscht, obwohl natürlich auch er stärkere und schwächere Werke vorgelegt hat. Begonnen hat McEwan mit düsteren, oftmals gewaltgetränkten Romanen wie Der Zementgarten (engl. The Cement Garden, 1978) oder Der Trost von Fremden (engl. The Comfort of Strangers, 1981), in denen sich menschliche Abgründe auftun.

Mit den Jahren wurde der Erzähler milder, lockerer, auch unterhaltsamer; sein scharfer und unerbittlicher Blick auf die menschliche Existenz blieb aber bestehen. Alle seine Romane sind der klassisch angelsächsischen Erzähltradition verpflichtet, sie pflegen einen zugänglichen Realismus und meiden die semantischen Experimente der Avantgarde.

Ein Meister des Endes

McEwans Raffinesse zeigt sich in der narrativen Konstruktion: Oftmals wiegt er den Leser zunächst in der Sicherheit vertrauten Geländes und zieht ihm dann – urplötzlich und unvermittelt, aber mit großer Souveränität und Gewandtheit – den Boden unter den Füßen weg. Leser seines berühmtesten Romans Abbitte (engl. Atonement, 2001) oder von Honig (engl. Sweet Tooth, 2012) wissen, was hier gemeint ist. Ein abrupter Wechsel der Erzählperspektive, eine unvorhergesehene Wendung lassen die Geschichte mit einem Mal in einem völlig anderen Licht stehen. Es gibt wenige Autoren, die solche Meister des Romanendes sind. Das klingt banaler, als es ist, denn wie oft liest man Texte, die einen Erzählfaden nach dem anderen spinnen und schließlich fallen lassen wie eine Handvoll zerkochter Spaghetti.

Auch McEwans Roman Kindeswohl (engl. The Children Act), der 2014 erschienen ist und jetzt mit Emma Thompson in der Hauptrolle in den Kinos läuft, wartet mit einem ziemlich effektvollen Schluss auf, der nach der Lektüre lange nachhallt.

Ehekrise und schwieriger Rechtsfall

McEwan erzählt hier von Fiona Maye, Richterin für Familienrecht am High Court in London, Ende Fünfzig, die ein beruflich außerordentlich erfolgreiches Leben führt und auf eine lange, scheinbar unproblematische, wenn auch kinderlose Ehe mit ihrem Mann Jack zurückblicken kann. Doch Wolken verschatten ihre Existenz: Jack hat eine jüngere Frau kennengelernt und kündigt Fiona an, sich in eine Affäre zu stürzen. In aller Offenheit und ohne Lug und Trug, versteht sich. Ein letztes Mal, so begründet er den angekündigten Seitensprung, möchte er sexuelle Ekstase erleben, bevor ihn die tückische Krücke des Alters trifft.

Fiona ist entsetzt, wirft ihren Mann mehr oder weniger aus der gemeinsamen Wohnung am noblen Gray’s Inn Square, und sieht sich mit der quälenden Frage konfrontiert, was ihre Ehe mit Jack an diese Abbruchkante des Scheiterns geführt hat. War es der berufliche Stress, der das Liebesleben des Paares abgetötet hat? Oder ist es doch die Kinderlosigkeit, die beide langsam aber stetig zermürbte?

In dieser schwierigen privaten Situation wird sie beruflich mit einem komplizierten Fall konfrontiert: Die Eltern eines siebzehnjährigen Jungen namens Adam, der an Leukämie erkrankt mit dem Tode ringt, verweigern eine möglicherweise lebensrettende Bluttransfusion – die Familie gehört den Zeugen Jehovas an und lehnt Blutprodukte aus religiöser Überzeugung ab. Die Klinik klagt und möchte die Therapie dennoch verabreichen. Da auch Adam selbst den Wunsch äußert, keine Transfusion zu erhalten, unterbricht Fiona die Verhandlung. Sie möchte den Jungen, der kurz vor der Volljährigkeit steht, in der Klinik besuchen und sich selbst ein Bild seiner Haltung machen.

Am Krankenbett ist sie tief beeindruckt von der Ernsthaftigkeit Adams, von seiner tiefen religiösen Gesinnung, seiner fast romantisch wagemutigen Standhaftigkeit, für den Glauben zu sterben – und nicht zuletzt von seinem musischen Talent. Eine wechselseitige Zuneigung zwischen den beiden entsteht.

Zurück im Gerichtssaal verkündet Fiona ihr Urteil: Die Therapie darf stattfinden. Adam überlebt. Wenig später zieht Jack, der die Affäre wohl doch nicht begonnen hat und wieder mit Fiona leben möchte, reumütig in die gemeinsame Wohnung zurück. Doch das Paar geht sich weiterhin aus dem Weg, die Ehe ist noch nicht gekittet.

Dann geschieht das Unerwartete: Adam meldet sich schriftlich bei Fiona, verkündet seine Abkehr von der Sekte und äußert den Wunsch, an ihrer Seite zu leben.  Durch ihre Entscheidung hat sein Leben eine gänzlich neue Wendung bekommen. Fiona ist irritiert, aber gleichzeitig erleichtert. Auf seine Briefe antwortet sie nicht. Bis er eines Tages direkt vor ihr steht und es zu Zärtlichkeiten kommt. Und dann nimmt das Schicksal seinen Lauf, ihres und das ihrer Ehe mit Jack, und auch das von Adam.

Konsequenzen der Entscheidung über Leben und Tod

Kindeswohl ist gewiss keiner der ganz großen Romane McEwans, an Abbitte oder Saturday (2005) reicht er nicht heran. Zu sehr klappert etwas die Konstruktion, zu wenig fügen sich die Sphären in Fionas Leben – ihre Ehe mit Jack und die Begegnung mit Adam – zusammen. Und doch: Wie der Brite hier die großen Themen Verantwortung und Schuld, Glaube und Gesetz, Liebe und Hoffnung miteinander verknüpft, ist schon erstaunlich gekonnt. Was macht es mit einem Menschen, der weiterleben muss, obwohl er den Preis dafür nicht bereit war zu zahlen? Und welche Konsequenzen muss man tragen, wenn man über Leben und Tod entscheidet?

Nicht zuletzt ist der Roman auch ein großer Essay über die schmerzhafte Differenz von Recht und Moral, der zeigt, wie schwierig es ist, nicht nur Recht zu sprechen, sondern auch Gerechtigkeit walten zu lassen. Niemals aber wird der Text akademisch oder staubig, die Sprache bleibt immer elegant und präzise, detailreich und anschaulich. Die Schwierigkeiten, über einen so abstrakten Gegenstand wie die Justiz fesselnd zu schreiben, meistert McEwan äußerst souverän. In welcher Tradition der englischen Literatur er sich dabei sieht, zeigen gleich die ersten Sätze: Hier verbeugt sich McEwan vor Charles Dickens‘ (1812-1870) grandiosem Roman Bleak House (1853), der ebenfalls einen hochkomplizierten Prozess zum Gegenstand hat und von der abgründigen Undurchsichtigkeit der Rechtsprechung handelt.

Wirklich empfehlen möchte ich den Roman Kindeswohl also; er wird niemand enttäuschen, der McEwan bereits kennt und bietet jenen einen guten Einstieg in sein Werk, die ihn noch entdecken wollen.

Ian McEwan: „Kindeswohl“.  Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2016. 224 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-257-24377-2.

 

8 Gedanken zu „Verurteilt zum Weiterleben“

  1. Lieber Julian,
    ich habe bisher noch kein McEwan – Roman gelesen. Ich hatte allerdings schon öfter mal ein Buch von ihm in der Hand… Hast du denn einen Tipp mit welchem Buch man gut starten kann?
    Liebe Grüße,
    Lisa

    1. Hallo Lisa,
      am besten ist das Beste: „Abbitte“. Oder du greifst zu einem seiner bösen frühen Romane, z.B. „Der Zementgarten“ oder „Der Trost von Fremden“. Ansonsten machst du auch mit „Kindeswohl“ nichts falsch.
      Liebe Grüße
      Julian

  2. Kindeswohl mag ich tatsächlich mehr als Abbitte. Liegt daran, weil er für mich analytischer und präziser in der Erzählweise ist. Abbitte verlor sich doch sehr in Beschreibungen und blumigen Nebenhandlungen.
    Doch bin ich immer wieder fasziniert, wie stark McEwan seinen Schreibstil seinen Figuren und dem Thema anpassen kann.
    Ein ganz großer Schriftsteller!

    Viele liebe Grüße
    Mareike

    1. Hallo Mareike,
      danke für deinen Kommentar! Die Opulenz war es gerade, die mich an „Abbitte“ so fasziniert hat. Und dann die verschiedenen Tonarten, die McEwan angeschlagen hat: Eine (aus meiner Sicht) unsentimentale Liebesgeschichte trifft auf harte, realistische Kriegsdarstellungen. Und dann der erzählerische ‚Clou‘ am Ende, den ich weder vorhergesehen habe (anders als das Ende bei „Kindeswohl“) noch aufgesetzt oder effekthascherisch fand. Aber ich kann dir in deinem Fazit nur zustimmen – McEwan ist ein ganz Großer!
      Liebe Grüße
      Julian

  3. Ich hab vor kurzem die Verfilmung von „Kindeswohl“ mit Emma Thompson und Stanley Tucci gesehen (hauptsächlich deswegen, weil ich die beiden Schauspieler ganz wunderbar fand) und war danach doch etwas verwundert, wie kitschig der Film doch ist. Das Buch steht bisher ungelesen in meinem Bücherregal und ich weiß nicht so recht, ob ich es noch lesen mag.
    „Abbitte“ fand ich damals ganz wunderbar von ihm, bei „Am Strand“ kann ich mich nicht mehr so recht daran erinnern, ob es mir gefallen hat (wobei das eher ein schlechtes Zeichen ist …).

    1. Der Film ist schlechter als das Buch, wie so oft. An „Abbitte“ reicht es natürlich nicht heran, aber gut, das ist wahrscheinlich das Beste, was McEwan bisher geschrieben hat. Ob er das jemals wieder erreicht?
      „Am Strand“ fand ich auch eher mittelmäßig. Die früheren Sachen von ihm sind ziemlich interessant, vor allem „Der Trost von Fremden“ mit seiner düsteren Stimmung und Brutalität. Hat einen ganz anderen Ton als seine späteren Bücher. Auch „Ein Kind zur Zeit“ und „Schwarze Hunde“ mag ich sehr. Sein allerletzter Roman, „Nusschale“, hat mich wieder etwas ratlos zurückgelassen. Die Erzählperspektive ist natürlich sehr originell, aber der Plot etwas konventionell (Hamlet).

  4. Hallo Julian, danke für diese Besprechung.
    Schande über mein Haupt, aber ich habe noch keinen McEwan gelesen. Aufmerksam durch den Kinofilm, würde ich nach Deinem Text aber nun doch erstmal das Buch lesen wollen.
    Herzliche #Litnetzwerk Grüße
    Isabel

    1. Hallo Isabel, ich habe für deinen Kommentar zu danken!
      McEwan lohnt sich in jedem Fall, ich mag ihn sehr! Wenn du „Abbitte“ als Film noch nicht gesehen hast, kann ich dir das Buch auch sehr empfehlen. Vielleicht das Beste, was McEwan geschrieben hat und eine der schönsten (und traurigsten) Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe. Das wäre dann der perfekte Einstieg in McEwan. Aber auch „Kindeswohl“ hat mich nicht enttäuscht.
      Herzliche #Litnetzwerk Grüße zurück!

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