Der heitere Misanthrop

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Gullivers Reisen ist eine bitterböse Satire auf Mensch, Staat und Gesellschaft. Den Fortschrittsglauben seiner Epoche würzt Jonathan Swift mit einer ordentlichen Portion Skepsis. Höchste Zeit, diesen Klassiker der Aufklärung wiederzuentdecken!

Manche Klassiker der Weltliteratur sind scheinbar so populär und allgegenwärtig, dass sie an ihrem Erfolg zu ersticken drohen. Jeder glaubt, sie zu kennen oder gelesen zu haben, ihre Fabeln und Figuren sind eingegangen in das Gedächtnis unserer Kultur. Doch der Eindruck täuscht.

Wer hat schon Don Quijote wirklich gelesen, diesen ersten modernen Roman der europäischen Literatur, der bis heute Maßstäbe für episches Erzählen setzt? Oder Moby Dick, die einzige wirkliche Great American Novel, die je geschrieben wurde? Oder die Lederstrumpf-Romane des James Fenimore Cooper, neben deren erhabener Schönheit der Kitsch des Möchtegern-Cowboys Karl May unerträglich bieder daherkommt?

Ein Schicksal ruhmvoller Vergessenheit

Wenn diese Texte überhaupt noch als Lesestoff existieren, dann als Bearbeitungen für Kinder (meistens Jungs) –  gekürzt und vereinfacht, reduziert zu bloßen ‚Abenteuerromanen‘ und damit aller Kraft, Herbheit und Größe beraubt. In Ermangelung wirklicher Kinder- und Jugendbücher wollte man damit in vergangenen Zeiten junge Leser zur Literatur hinführen. Aber das ist längst Geschichte. Dumbledore schlägt Captain Ahab um Längen.

Ein Schicksal ruhmvoller Vergessenheit erleidet auch das wohl wichtigste Werk des irischen Satirikers, Essayisten und Aufklärers Jonathan Swift (1667-1745). Mit dem Titel Gullivers Reisen (engl. Travels into Several Remote Nations of the World, 1726) dürften selbst diejenigen etwas anzufangen wissen, denen Bücher – wenn überhaupt – als Raumdekoration dienen.

Geschildert werden die Irrfahrten des Arztes Lemuel Gulliver, der als Schiffsmediziner anheuert und zur See fährt. Mehrfach erleidet er Schiffbruch und strandet in fernen Ländern, von denen kein Mensch zuvor jemals gehört hat. Auf der Insel Liliput, die von nur sechs Zoll kleinen Menschen bewohnt wird, muss er sich mit den im wahrsten Wortsinn kleinlichen Problemen der dortigen Gesellschaft auseinandersetzen.

Britisches Gesellschaftssystem verursacht Ekel

Denn die Liliputaner sind tief gespalten. Die Parteien der ‚Trackmesan‘ (tragen hohe Schuhabsätze) und der ‚Slackmesan‘ (tragen niedrige Absätze) liegen so heftig miteinander im Streit, dass kein Diskurs mehr möglich ist. Außerdem droht Krieg mit der Nachbarinsel Blefuscu, wo man aus reiner Infamie sein Frühstücksei von der anderen Seite aufschlägt als auf Liliput. Weil Gulliver jedoch einen Brandanschlag der gegnerischen Nachbarn auf den liliputanischen Königspalast vereitelt, indem er das Feuer mit seinem Urin löscht, verurteilt man ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zum Tode. Gerade noch rechtzeitig kann Gulliver von der Insel fliehen und wird gerettet.

Wenig später verschlägt ein erneuter Schiffbruch den Arzt nach Brobdingnag, einer von Riesen bevölkerten Insel. Als er dem dortigen König das britische Gesellschaftssystem zu erklären versucht, wendet sich dieser voll Ekel ab:

„Aber nach allem, was ich deinen Erzählungen entnehmen konnte […], kann ich daraus nichts anderes schließen, als dass die Eingeborenen bei euch zur übergroßen Mehrheit das zäheste und widerwärtigste kleine Gewürm sein müssen, dass die Natur jemals auf dieser Erde hat kriechen lassen.“

Weitere Unglücksfälle auf hoher See führen Lemuel Gulliver unter anderem in ein Land, dessen Bevölkerung verelendet, während die akademische Elite sich mit vorgeblich revolutionären, in Wahrheit aber völlig abstrusen Forschungen beschäftigt. Man arbeitet dort etwa an der Rückverwandlung von Kot in menschliche Nahrung und der Extraktion von Sonnenlicht aus Gurken.

Satiren brachten Swift in ernsthafte Schwierigkeiten

Swift hält mit seiner bitterbösen Satire der zeitgenössischen Gesellschaft einen Spiegel vor, in dem sich alles zur Karikatur verzerrt. Politische Parteien, Konfessionen, eitle Macht- und Herrschsucht, der Fortschrittsoptimismus der Wissenschaften – all das wird auf höchst unterhaltsame Weise durch den Kakao gezogen.

Allerdings machte sich der Schriftsteller mit derlei Späßen nicht nur Freunde. Schon als Theologiestudent am Trinity College in Dublin eckte Swift so häufig an, dass er sein Examen 1686 trotz überdurchschnittlicher Leistungen nur ‚by special grace‘, also gnadenhalber, bestand. Trotzdem wurde Swift 1694 zum Reverend der Church of Ireland ordiniert. Später engagierte er sich auch in der Politik, zunächst bei den liberal-progressiven ‚Whigs‘, dann bei den konservativen ‚Tories‘. Als deren Stern rapide sank, kehrte Swift der Politik den Rücken und wurde schließlich zum Dekan von St. Patrick in Dublin ernannt.

Seine regelmäßig publizierten Satiren, mit denen er unter anderem die Ausbeutung der irischen Bevölkerung durch die englischen Gutsbesitzer anprangerte, brachten Swift mehrmals in ernsthafte Schwierigkeiten mit Justiz und Klerus. Den Vorwurf seines Bischofs, er würde mit seiner Scharfzüngigkeit das Volk aufwiegeln, erwiderte er gelassen mit den Worten: ‚Ich bräuchte nur meinen kleinen Finger rühren und Sie würden in Stücke gerissen.‘

Abgrundtiefes Misstrauen gegenüber der menschlichen Natur

Auch Gullivers Reisen ist in erster Linie eine bissige, politisch-gesellschaftliche Satire und weniger ein Roman. Charaktere und Handlung sind in der Hauptsache Aufhänger für Swifts erfindungsreichen Spott. Doch bei allem Witz, den der Text auch heute noch versprüht, durchzieht das ganze Werk doch eine ernste, fast melancholische Grundmelodie. Denn Swift bringt der menschlichen Natur ein abgrundtiefes Misstrauen entgegen.

Vor allem der letzte Teil des Buches, der Gullivers Erlebnisse im Land der Houyhnhnms schildert, ist an Misanthropie kaum noch zu überbieten. Dort leben keine Menschen, sondern ausschließlich vernunftbegabte und zivilisierte Pferde – die Houyhnhnms -, sowie eine weitere Spezies, die haarig, hässlich und dumm erscheint. Diese ‚Yahoo‘ genannten Wesen haben menschliche Züge, wie Gulliver entsetzt feststellt, und sind nur für schwere körperliche Arbeit zu gebrauchen. Rasch identifizieren ihn die klugen Pferde mit diesen niedrigen Geschöpfen und sperren ihn ein. Mühsam muss Gulliver das Vertrauen der Houyhnhnms erlangen, was ihm zunächst auch gelingt.

Doch mit der Zeit muss der Arzt einsehen, dass er als Mensch den Yahoos ähnlicher ist als den weisen und friedlichen Pferden. Schlussendlich verlässt er die Insel wieder und kehrt zurück in seine Heimat. Doch dort kann Gulliver sich nicht mehr einfügen, alles Menschliche stößt ihn fortan ab und führt ihm den großen zivilisatorischen Abstand vor Augen, der seine Spezies von den edlen Houyhnhnms trennt.

Aufklärung glaubt an Vervollkommnung des Menschen

Der Mensch, so lautet die Einsicht dieses letzten Teils von Gullivers Reisen, ist zu einer wirklich moralischen und friedlichen Existenz schlicht unfähig. Dieses Fazit überrascht, vor allem, wenn man Swift im Kontext seiner Zeit als einen Autor der Aufklärung versteht. Aber diese Einschätzung ist eben nur die halbe Wahrheit.

Denn die Aufklärung von Voltaire und Rousseau über Hume und Kant bis hin zu Marx hat den Menschen stets als ein Wesen verstanden, das grundsätzlich zur Vervollkommnung fähig ist. Wenn wir uns nur kräftig genug anstrengen, wenn wir uns aller inneren und äußeren Hindernisse entledigen und unsere Vernunft zur vollen Entfaltung bringen – dann können wir als Menschen unter Menschen gut und richtig leben. Der „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) ist möglich.

Swift widerspricht diesem Kerngedanken, er würzt die fortschrittsgläubige Aufklärung mit einer gehörigen Portion Skepsis. Nein, wir Menschen sind nicht gut, und Staat und Gesellschaft, diese Hervorbringungen unserer stolzen Kultur, sind es erst recht nicht. Wir sind schlecht gezähmte Yahoos, die einander die Butter auf dem Brot missgönnen und ihresgleichen bedenkenlos wegen nichts und wieder nichts abschlachten. Mit dieser Ansicht steht Swift pessimistischen Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche deutlich näher als seinen schier grenzenlos zuversichtlichen Zeitgenossen.

Es ist nicht verkehrt, gerade heute dem heiteren Misanthropen Jonathan Swift wieder eine angemessene Würdigung zuteil werden zu lassen. Die maßstabsetzende Übersetzung von Christa Schuenke, die den Text sanft aktualisiert ohne seinen Entstehungskontext zu verleugnen und überdies von hilfreichen Anmerkungen begleitet wird, macht dies möglich. 

Jonathan Swift: „Gullivers Reisen“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Nachwort von Dieter Mehl. Manesse Verlag, Zürich 2017. 704 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-7175-2078-8.

3 Gedanken zu „Der heitere Misanthrop“

    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar!

      „Grottenschlecht“ ist absolut unfair. Christa Schuenkes Übertragung hat Mängel, wie jede Übersetzung, ist insgesamt aber sehr gut. Ich habe mir Ihre Auflistung der angeblich fehlerhaften Übersetzungen mit Hilfe des OED (Oxford Dictionary of English, Third Edition) etwas näher angesehen. Mehrere Ihrer Beanstandungen halten einer erneuten Überprüfung nicht stand:

      – S. 320 „desolate“. Die Übersetzung „gottverlassen“ ist ein wenig frei, aber sicher nicht falsch. desolate -> „uninhabited and giving an impression of bleak emptiness“ Origin: late Middle English from Latin desolatus ‚abadoned‘, past participle of ‚desolare‘, from de- ‚thorougly‘ + solus ‚alone‘.
      „Gottverlassen“ ist also hinsichtlich der Wortherkunft immer noch korrekter als Ihr Vorschlag „wüst“.

      – S. 321 „I was not able to distinguish“. Sie bemängeln die Übersetzung von „to distinguish“ mit „erkennen“. OED: distinguish -> „2 manage to discern (something barely perceptible)“. Im Kontext des Halbsatzes, der lautet „[…] but what those people where doing i could not distinguish“ würde Ihr Übersetzungsvorschlag „aber was diese Leute taten, konnte ich nicht unterscheiden“ den Sinn schlicht verfehlen. Gulliver erkennt im Gewimmel nicht, was die Leute tun. Schuenke übersetzt also auch hier absolut korrekt.

      – S. 325 „at my alighting“. Sie beanstanden die Übersetzung „Sobald ich von dem Sitze abgestiegen“ und schlagen stattdessen „Bei meiner Landung“ vor. Wie wir aus dem vorherigen Kapitel erfahren haben, wird Gulliver mit einer Kette, an der ein Sitz befestigt ist, zur fliegenden Insel hinaufgezogen: „[…]a chain was let down from the lowest gallery, with a seat fastened to the bottom, to which I fixed myself, and was drawn up by pulleys“. Gulliver befindet sich zu Beginn von Teil III, Kapitel 2 auf der Insel, die immer noch schwebt, und steigt von seinem Sitz, der ihn hinaufgebracht hat, herunter. Von einer „Landung“ kann keine Rede sein. Entsprechend OED: alighting -> „descend from a train, bus, or other form of transport“. Schuenke übersetzt folglich absolut richtig.

      – S. 331 „obsolete“. OED: -> „no longer produced or used; out of date“. Schuenkes Übersetzung mit „nicht mehr in Gebrauch“ ist völlig richtig, es gibt keinen Grund, mit „obsolet“ hier im Deutschen ein Fremdwort zu benutzen.

      – S. 331 „by corruption“. Ein sehr interessanter Übersetzungsfall! Der ganze Satz lautet im englischen Original: „Lap, in the old obsolete language, signifies high; and untuh, a governor; from which they say, by corruption, was derived Laputa, from Lapuntuh“. Ihr Übersetzungsvorschlag lässt den Sinn im Dunkeln. Was soll das bedeuten: „und so sei aus ‚Lapuntuh‘, heißt es, durch Verderb ‚Laputa‘ geworden“? Auch hier hilft ein Blick ins Wörterbuch. OED: corruption-> „2 the process by which a word or expression is changed from its original state to one regarded as erroneous or debased“. Schuenkes Übersetzung ist ganz hervorragend, sie beschreibt genau, was hier sprachlich passiert ist: „und so sei aus ‚Lapuntuh‘, heißt es, durch die Erweichung der Konsonanten ‚Laputa‘ geworden.

      Leider fehlt mir die Zeit, um noch weitere Ihrer Beanstandungen zu überprüfen, aber ich denke, es wird deutlich, dass die Übersetzung nicht so schlecht ist, wie Sie behaupten. Ich bleibe dabei, sie ist (im Rahmen des menschlich Möglichen) gut und genau. Wenn Sie auf eine bessere, fehlerärmere Version stoßen, teilen Sie es mir gerne mit.

      Herzlichst,
      Julian Zündorf

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