Wie trügerisch sind unsere Erinnerungen?

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Das Gedächtnis ist der Speicher unserer Erfahrungen. Aber woher wissen wir, dass unsere Erinnerungen keine Lügen sind? Um diese Frage kreist E. O. Chirovicis Das Buch der Spiegel. Im Mittelpunkt des Romans steht ein geheimnisvolles Manuskript über einen Jahre zurückliegenden, ungelösten Mord an einem berühmten Psychologieprofessor. Das Buch ist literarische Spurensuche, Campusroman und Cold-Case-Thriller zugleich.

Ich bin kein großer Thriller-Leser, das muss ich gleich zugeben. Nicht, dass mich das Genre grundsätzlich nicht interessiert: Im Gegenteil, besonders beim Film reizen mich gut gemachte, spannende Geschichten außerordentlich. Es gibt wohl keinen Regisseur, der mich derart beeindruckt und beeinflusst hat wie Alfred Hitchcock (1899-1980). Dem nach Amerika ausgewanderten Briten, der sein Handwerk noch in der Stummfilmzeit gelernt hatte, gelang es in den 50er und frühen 60er Jahren, den Thriller endgültig aus der B-Movie-Schublade zu befreien.

Seine besten Filme erzählen spannende Plots auf ästhetisch brillante Art. Das ‚Wie‘ des Erzählens, die Bildsprache, ist bei Hitchcock mindestens ebenso wichtig wie das ‚Was‘, die erzählte Geschichte. In der Gegenwart denkt man an Regisseure wie David Fincher (Sieben, Fight Club) oder Christopher Nolan (Memento, Inception), denen die Verbindung von Unterhaltung und Anspruch auf ihre Art ähnlich überzeugend gelingt wie dem Meister des Suspense.

Literarische Thriller sind leider Mangelware

In der Literatur sind Autoren dieses Schlages leider Mangelware. Zu oft liegt das ganze Gewicht auf der Entwicklung eines möglichst effektvollen Plots, zu oft werden Charaktere ebenso vernachlässigt wie das Allerwichtigste, was es in der Literatur gibt: die Sprache. Sie ist die Essenz jedes literarischen Werkes. Ist die Sprache mittelmäßig, kann mich ein Buch nicht für sich einnehmen. Und wenn, wie bei manchen erfolgreichen Thrillerautoren, jegliche Figurenlogik einer maximal spektakulären Story-Auflösung geopfert wird, fühle ich mich als Leser betrogen. Mit Literatur also haben etwa die Produkte von Sebastian Fitzek oder Jo Nesbø so viel zu tun wie Dosenravioli mit italienischer Küche.

Aber gelegentlich gibt es sie ja doch, die guten, klugen Thriller, die nicht nur oberflächlich die Zeit vertreiben, sondern auch zum Denken anregen. Die noch nachhallen, wenn die letzte Seite verschlungen ist, und den Leser nicht mit falscher Syntax und schlechten Metapher belästigen.

Überwältigender Erfolg

Ein solches Buch ist das jüngste Werk des rumänischen Schriftstellers E. O. Chirovici (*1964). Das Buch der Spiegel (engl. The Book of Mirrors, 2017) ist nicht sein erster Roman, aber sein erster in englischer Sprache. So etwas gelingt selten, denn Sprach- und Kulturwechsler haben es in der Literatur meist schwer – Ausnahmen wie Joseph Conrad, Vladimir Nabokov und Hilde Spiel bestätigen die Regel.

Nicht so im Fall Chirovici: Das Buch des Rumänen schlug 2017 auf dem US-amerikanischen Buchmarkt wie eine Bombe ein und wurde dann auch in Europa kräftig bejubelt. So groß ist der Erfolg, dass sich der intrinsische Literatur-Snob zu regen beginnt und die ketzerische Frage aufwirft: Kann etwas gut sein, das so viele Menschen gut finden?

Es kann. Denn in Chirovicis Roman dreht sich alles um eine Frage, die sich wohl jeder Mensch in seinem Leben schon dutzende Mal gestellt hat, ohne eine sichere Antwort zu wissen: Wie wahr sind unsere Erinnerungen? Wie sehr weicht das, was unser Gedächtnis speichert, von dem ab, was tatsächlich passiert ist?

Ein geheimnisvolles Manuskript

Gleich zu Beginn von Das Buch der Spiegel flattert dem Literaturagenten Peter Katz ein geheimnisvolles Manuskript ins Haus. Der Autor – ein gewisser Richard Flynn – kündigt die Aufklärung eines lange zurückliegenden, spektakulären Mordfalls an: Vor dreißig Jahren wurde der renommierte Psychologieprofessor Joseph Wieder in seinem Haus in Princeton brutal erschlagen. Ein Täter konnte nicht ermittelt werden. Flynn, ehemaliger Student Wieders, behauptet in seinem Manuskript, den Mörder zu kennen und jetzt zu enthüllen.

Zunächst schildert Flynn seine Beziehung zu Wieder. Als junger Student lernt er durch seine neue Mitbewohnerin, die ebenso kluge und ehrgeizige wie attraktive Laura Baines, den berühmten Professor kennen. Laura ist Wieders Assistentin und verhilft Flynn zu einem Nebenjob in dessen Privatbibliothek. Flynn ist sich nicht sicher, wie Laura und Wieder wirklich zueinander stehen. Haben sie außer der beruflichen Beziehung auch ein sexuelles Verhältnis miteinander? Laura verneint das, aber Flynn bleiben Zweifel. Immer stärker gerät er selbst in den Bann seiner Mitbewohnerin und verliebt sich in sie. Schließlich beginnen sie, so schildert es Flynn, eine Beziehung.

Was aber ist das für ein geheimnisvolles Projekt, an dem Laura und Wieder arbeiten? Flynn erfährt nur Weniges: Offenbar scheint es um die nachträgliche Manipulation von Erinnerungen zu gehen, die etwa für die Therapie traumatisierter Soldaten nutzbar gemacht werden soll. Wieder hat in diese Richtung schon einige angewandte Forschungen durchgeführt. Da gibt es etwa Derek Simmons, der als eine Art Hausmeister bei Wieder arbeitet und für den Mord an seiner Ehefrau im Gefängnis gesessen hat. Als Gutachter hat Wieder Simmons entlastet und anschließend therapiert. Aber ist der Mann so unschuldig, wie er behauptet und Wieder geglaubt hat?

Drei Erzähler lösen das Rätsel

Bevor Flynn den Mord schildern und den Täter nennen kann, bricht sein Text ab. (So kann es gehen, wenn Literaturagenten nur Textproben zugesandt bekommen wollen.) Als Katz den Autor aufsuchen will, um von ihm das ganze Manuskript zu erhalten, muss er feststellen, dass Flynn mittlerweile verstorben ist und vom Rest seines Werkes jede Spur fehlt.

Flynn gibt auf, aber es gelingt ihm, seinen Freund, den Journalisten John Keller, auf den Fall anzusetzen. Keller recherchiert weiter, doch des Rätsels Lösung bleibt schwierig. Schließlich gibt es noch einen dritten Erzähler, den pensionierten Polizisten Roy Freeman, der schon früher an dem Fall gearbeitet hat und sich nun – nach den Recherchen von Katz und Keller – noch einmal an den alten Fall wagt. Alles daran, soviel sei hier verraten, ist ganz anders als es zunächst den Anschein hatte.

‚Wahrheit‘ bleibt ein trügerisches Konzept

Man staunt als Leser, wie gekonnt Chirovici in seinem Roman mit Formen der anspruchsvollen Literatur und des Unterhaltungsromans spielt. Die drei Erzähler führen unterschiedliche Wahrheiten derselben Geschichte zutage, die einander erheblich widersprechen. Aber welche Version ist die richtige? ‚Wahrheit‘, so zeigt es der Roman, bleibt ein brüchiges, trügerisches Konzept, das immer neu bestimmt werden will.

Ein wenig bedauerlich ist jedoch, dass sich die Erzähler in ihrer Sprache so wenig unterscheiden und als Figuren eher blass bleiben. Auch hätte man gerne mehr über Laura Baines erfahren, aber der Charakter verschwindet allzu schnell wieder aus dem Fokus des Erzählens. Das Porträt bleibt letztlich unvollständig.

Und doch: Romane wie dieser, die unterhalten, ohne zu unterfordern, die geistreich und spannend zugleich sind und subtil die Genregrenzen sprengen, muss man loben. Es gibt sie – leider – zu selten.

E. O. Chirovici: “Das Buch der Spiegel”. Roman. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Werner Schmitz. Goldmann Verlag, München 2018. 384 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-442-48755-4.

4 Gedanken zu „Wie trügerisch sind unsere Erinnerungen?“

  1. Guten Abend,

    das Buch der Spiegel hat mir damals auch sehr gut gefallen und deine Rezension erweckt viele positive Erinnerungen an das Buch. Ich hatte gerade echt Lust es noch mal aufzuschlagen, aber ich habe es leider aktuell verliehen. Ich fände es super wenn erneut was von ihm übersetzt würde.
    Vielen Dank für deine außerordentlich umfangreiche Besprechung. Ich hatte viel Freude beim Lesen.

    Viele liebe Grüße

  2. Gelockt von deiner Überschrift habe ich deinen Beitrag gelesen. Das Buch hört sich für mich spannend an und wandert direkt auf meine Wunschliste. Ich musste bei der Überschrift erst mal an das Buch „Memory Game- Erinnern ist tödlich“ von Felicia Yap denken. Dort haben die Menschen nur ein Erinnerungsvermögen von einem maximal zwei Tagen und müssen alles erlebte aufschreiben, um sich später dran erinnern zu können.
    Das Buch wäre eventuell auch was für dich.

    Viele Grüße
    Kerstin

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