Melancholie als Widerstand

Heute vor 75 Jahren wurde W. G. Sebald (1944-2001) geboren, einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Im angelsächsischen Raum wird er für seine außergewöhnlichen Prosatexte wie Austerlitz geradezu kultisch verehrt, hierzulande ist er immer noch viel zu unbekannt. Eine Würdigung des großen Archäologen der Erinnerungskultur.

Als bekannt wurde, dass das Stuttgarter Literaturhaus im November 2001 ausgerechnet mit einer Rede W. G. Sebalds eröffnet werden sollte, löste diese Entscheidung in der Kulturszene der Stadt nicht nur helle Begeisterung aus. Hatte man keinen bekannteren Autoren für diesen bedeutenden Anlass auftreiben können? Warum ausgerechnet dieser obskure, in England lebende Literaturwissenschaftler, der sich in seiner Freizeit als Schriftsteller versuchte?

Diese Reaktionen auf Sebald waren keinesfalls außergewöhnlich, sondern durchaus typisch. Während seiner ganzen, viel zu kurzen Laufbahn als Schriftsteller musste sich Sebald in Deutschland immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt sehen, im Grunde doch nur ein dichtender Professor, ein Poeta doctus zu sein. Im Rest der Welt allerdings erkannte man früher und klarer als hierzulande die herausragende Qualität seiner Literatur.

Auswanderung nach England

Winfried Georg Sebald wird am 18. Mai 1944 in Wertach im Allgäu geboren. Seine Vornamen lehnt er zeitlebens ab; es sind für ihn, wie er einmal sagt, „richtige Nazi-Namen“. Als Autor nutzt er nur seine Initialen, von Freunden lässt er sich „Max“ nennen. Nach dem Abitur beginnt Sebald 1963 ein Studium der Germanistik in Freiburg im Breisgau, wechselt allerdings bald ins schweizerische Fribourg und wandert nach seinem Abschluss 1967 endgültig nach England aus. Dort promoviert er über Alfred Döblin und schlägt eine akademische Karriere ein; 1988 wird er zum Professor of European Literature an der University of East Anglia in Norwich ernannt.

Im selben Jahr veröffentlicht der neuberufene Professor sein erstes literarisches Werk, das Langgedicht Nach der Natur, von dem kaum jemand Notiz nimmt. Auch das nachfolgende Buch Schwindel. Gefühle. (1990) bleibt eher unbeachtet. Erst 1992 wird Sebald einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ Die Ausgewanderten erscheint.

Im „Literarischen Quartett“ verrissen –  in den USA gefeiert

Die vier langen Erzählungen schildern Leben und Leiden von vier Emigranten teils jüdischer Abstammung aus Europa. Zum Großteil sind diese Biografien authentisch, nur Details und Namen wurden geändert. Die Geschichten handeln von Entwurzelung und Vertreibung, von Heimatverlust und der Macht der Erinnerung. Sebald vervollkommnet hier seine schon zuvor erprobte Methode, verfremdete Schwarz-Weiß-Fotografien in den Text zu integrieren und damit die Authentizität seiner Erzählungen gleichzeitig zu unterstreichen und ironisch zu brechen.

In Deutschland sind die Rezensionen in den großen Tageszeitungen anerkennend bis begeistert. Nur Marcel Reich-Ranicki verreißt das Buch im „Literarischen Quartett“ und bezeichnet es abfällig als „feierliche Germanistenprosa“. Jenseits des Atlantiks jedoch ist man euphorisch. „Ich kenne kein Buch“, schreibt etwa die US-amerikanische Literaturkritikerin und Schriftstellerin Susan Sontag, „das mehr über das komplexe Schicksal vermittelt, ein Europäer am Ende der europäischen Zivilisation gewesen zu sein.“

Vergänglichkeit ist zentrales Thema

1995 folgt Die Ringe des Saturn, Sebalds persönlichstes und vielleicht schönstes Buch. Es handelt von einer Wanderung des Erzählers durch die ostenglische Landschaft und verknüpft persönliche Reflexionen mit essayistischen Gedanken zur Naturgeschichte der Zerstörung, zur Geschichte und Literatur. Vergänglichkeit ist das zentrale Thema dieses ausgesprochen elegischen Textes; überall begegnen dem Wanderer Spuren des Zerfalls von Kultur und Natur, die er aufnimmt und zueinander in Bezug setzt.

Überhaupt ist Sebald ein zutiefst melancholischer Schriftsteller, doch gerade in dieser Stimmung erkennt er ein subversives Potential:

„Die Haltung der Melancholie hat für mich nichts Bequemes. Sie ist für mich eine Form des Widerstands.“

Die Aufgabe der Literatur, wie Sebald sie begreift, ist Beschwörung des Vergangenen, des Verlustes, der Auflösung. Zugleich aber stellt sie den Versuch dar, das durch Zeit und Gewalt Vernichtete in der Sprache neu aufleben zu lassen und, im besten Fall, geschlagene Wunden zu heilen.

Anwärter auf den Nobelpreis

1997 löst er mit seinen Zürcher Poetikvorlesungen, die zwei Jahre später unter dem Titel Luftkrieg und Literatur gedruckt erscheinen, eine größere Debatte über die Erinnerungskultur der Nachkriegszeit aus, die rasch die Grenzen des literaturwissenschaftlichen Diskurses überschreitet. Weshalb, so fragt Sebald, nehmen die Texte deutscher Schriftsteller nach ’45 so wenig Notiz von der Zerstörung und dem Trauma des Bombenkriegs? Warum hat sich die Literatur, die doch der Speicher des kulturellen Gedächtnisses sein soll, hier selbst ein Tabu auferlegt?

Sebalds letztes vollendetes Buch, Austerlitz, erscheint 2001. Erzählt wird hier von Jacques Austerlitz, einem Juden, der dem Holocaust als Kind knapp entkommen konnte. Die lebenslang verdrängte Vergangenheit kann der Protagonist erst als alter Mann im Prozess des Erzählens freilegen und so zu seiner eigenen Biografie zurückfinden. Dieses Buch ist die Summe von Sebalds Werk, alle großen Themen sind hier noch einmal versammelt.

Mit Austerlitz etabliert sich Sebald endgültig als einer der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. In der angelsächsischen Welt bezeichnet man ihn gar als „prime speaker of the Holocaust“. Spätestens jetzt gilt er auch als Anwärter für allerhöchste literarische Auszeichnungen, für den Büchner- und sogar den Nobelpreis.

Vorbild für jüngere Autoren

Auch wird er zum Vorbild zahlreicher jüngerer Autoren, unter denen sich zwar bis heute keine wirklichen Nachfolger, aber zahlreiche Nachahmer finden. Ein Roman etwa wie Extrem laut und unglaublich nah (2005) des US-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Safran Foer (*1977) ist – nicht zuletzt aufgrund seiner Verknüpfung von Erzähltext und Schwarz-Weiß-Fotografien – ohne den Einfluss Sebalds gar nicht denkbar. Auch die Texte des nigerianisch-amerikanischen Autors Teju Cole (*1975) zeigen sich klar als von Sebald inspiriert (z. B. Jeder Tag gehört dem Dieb (2007); Open City (2011); Vertraute Dinge, fremde Dinge (2016)).

Die Einweihung des Stuttgarter Literaturhauses ist Sebalds letzter öffentlicher Auftritt. Noch einmal plädiert er in seiner Rede für den alle Grenzen von Zeit, Raum und Tod überschreitenden „synoptischen Blick“ des Schriftstellers:

„Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution“.

Wenige Wochen später, am 14. Dezember 2001, verunglückt W. G. Sebald in seiner Wahlheimat England bei einem Autounfall tödlich. An diesem Samstag wäre er 75 Jahre alt geworden.

Sebalds Werke sind im Hanser Verlag (gebunden) und bei S. Fischer (Taschenbuch) erschienen.

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