Ein spektakulärer Mordprozess

© S. Fischer Verlag

Nach seinen fabulierfreudigen Großromanen wagt sich Alfred Döblin an etwas Neues: In einer halbfiktionalen Reportage geht der Autor einem realen, skandalösen Kriminalfall im Berlin der 1920er Jahre nach. Milieuschilderung und literarischer Stil des Textes weisen bereits auf Berlin Alexanderplatz voraus.

Es ist einer der aufsehenerregendsten Mordprozesse der Weimarer Republik: Im März 1923 wird die Friseurin Elli Klein vor dem Landgericht Berlin angeklagt, den eigenen Ehemann mit Arsen vergiftet zu haben; ihre Freundin Margarete Nebbe beschuldigt man der Mittäterschaft. Die Berliner Zeitungen stürzen sich auf die Geschichte, spektakuläre Giftmordfälle mit weiblichen Täterinnen treiben die Auflage in jenen Jahren regelmäßig nach oben; in diesem besonderen Fall sorgt die lesbische Affäre der beiden Angeklagten – damals noch weitgehend ein gesellschaftliches Tabu –  für eine zusätzliche Sensationsgier.

Faszination für soziale Außenseiter

Nicht nur die Lokalpresse beschäftigt sich mit dem Prozess, auch drei berühmte Schriftsteller verfassen Texte dazu. Die Österreicher Joseph Roth und Robert Musil schreiben kürzere Reportagen, Alfred Döblin dagegen vergräbt sich tiefer in das unglückliche Leben der Eheleute Klein. Ihn interessiert der Fall aus mehreren Gründen: Zunächst einmal braucht er Erholung von seinem soeben vollendeten Großroman Berge Meere und Giganten. Das gewaltige Projekt hat ihn viel Kraft gekostet und es drängt ihn nach diesem technologisch-dystopischen Zukunftsepos zu einem alltäglicheren, realistischeren Stoff. Außerdem ist Döblin mehr und mehr von sozialen Außenseitern fasziniert, von den Randfiguren der Gesellschaft und den Verbrechen, die in diesem Milieu stattfinden.

Der Schriftsteller verfolgt den Prozess aufmerksam. Nachdem das – relativ milde, aus Döblins Sicht progressive – Urteil gesprochen ist, recherchiert er den Fall anhand der Gerichtsakten noch einmal nach, spricht mit Beteiligten und streift durch die Wohngegend der Angeklagten, um sich in die Geschichte einzufühlen. Er will diesen Fall wirklich erforschen, möchte die Beweggründe, die Motive der Frauen verstehen und literarisch darstellen.

Mit literarischen Mitteln die Wahrheit ans Licht bringen

Zu diesem Zweck gestattet er sich einige Freiheiten. Zunächst verändert er die Namen der Protagonisten leicht – aus Elli Klein wird Elli Link, den Nachnamen Margarete Nebbes ändert er zu Bende. Das Geschehen selbst wird ausgeschmückt, Döblin erfindet einige Szenen und Gespräche frei hinzu. Der entstehende Text soll keine die bloßen Fakten nachvollziehende Gerichtsreportage werden, sondern ein bewusst halbfiktionaler Text, der die Wahrheit mit literarischen Mitteln ans Licht bringen will.

Die lebenslustige, erst neunzehnjährige Elli ist 1918 von Braunschweig nach Berlin gezogen. Sie arbeitet zunächst in einem größeren Friseursalon und genießt das Leben. Zahlreiche Männerbekanntschaften werden ihr nachgesagt, doch Elli mag sich noch nicht binden. Da tritt unversehens der wenige Jahre ältere Tischler Link in ihr Leben, bemüht sich um sie und macht bald einen Heiratsantrag. Die Eltern sind einverstanden, die Ehe wird geschlossen. Doch das Paar wird nicht glücklich. Bald schon wird Link, der seiner Frau emotionale Kälte vorwirft, ihr gegenüber gewalttätig und zwingt sie zu demütigenden sexuellen Praktiken.

Vergiftung mit Arsen

Irgendwann lernt Elli Margarete Bende kennen, auch diese ist eher unglücklich verheiratet. Es entsteht eine enge Freundschaft zwischen den Frauen, dann auch ein sexuelles Verhältnis. Elli und Margarete klagen sich in hunderten Briefen ihr Leid und versichern sich wechselseitig ihrer Liebe. Schließlich wagt Elli den Bruch und verlässt Link. Sie zieht in eine eigene Wohnung; das Verhältnis der Frauen zueinander intensiviert sich. Elli informiert ihre Eltern über die bevorstehende Scheidung, doch der Vater mag die Trennung nicht akzeptieren. Er reist nach Berlin und überredet seine Tochter, zu Link zurückzukehren. Eine Zeit lang funktioniert die Ehe wieder, doch bald eskaliert die Situation von neuem. Link trinkt, wird wieder aggressiv und gewalttätig.

Allmählich fassen die Frauen den Plan, sich Links zu entledigen. Elli besorgt sich Arsen (damals als Rattengift problemlos erhältlich) und vergiftet sukzessive ihren Mann. Margarete ist eingeweiht und erwägt, auch den eigenen Gatten ins Jenseits zu befördern. Link stirbt am 1. April 1922, doch seine Mutter schöpft Verdacht und erstattet Anzeige gegen die Schwiegertochter; eine Obduktion weist die Vergiftung nach. Zunächst wird Elli verhaftet, wenig später auch Margarete; der Briefwechsel der Freundinnen belegt ihre Schuld, und der Prozess beginnt. Schließlich werden die Frauen verurteilt: Elli zu vier Jahren Gefängnis, Margarete zu eineinhalb Jahren Zuchthaus.

Grenze zwischen Tätern und Opfern verwischt

Döblin analysiert das Geschehen präzise, doch es geht ihm in erster Linie nicht um die Schuldfrage, denn in diesem Fall verwischt die Grenze zwischen Tätern und Opfern. Stattdessen beleuchtet der Autor so viele Aspekte des Falls wie nur möglich. Er zeigt die Zwangslage der Frauen auf, unter der besonders Elli leidet, die sich zwischen einem autoritären Vater, der eine Scheidung der Tochter nicht hinnehmen mag, und dem gewalttätigen Ehemann im Klammergriff befindet. Dennoch verschweigt der Text auch nicht die Brutalität und Kaltblütigkeit des Mordes, das langsame Sterben des Mannes, der an der Vergiftung qualvoll zugrunde geht.

Intensiv nutzt Döblin die psychologischen Gutachten über die beiden Angeklagten und erstellt graphische Schemata zur „Seelenveränderung“ der Protagonisten, die dem Text beigefügt sind. Doch trotz aller Bemühungen um eine Klärung der Tat und ihrer Vorgeschichte entzieht sich diese einem wirklichen Verständnis. Zu verwickelt sind die seelischen Vorgänge im Menschen, zu ungenau das Medium der Sprache, um sie hinreichend transparent und nachvollziehbar darzustellen. Am Ende, in seinem resümierenden Epilog, muss der Autor feststellen, dass es unmöglich ist, das Leben in all seiner Komplexität auf den Begriff zu bringen. Was bleibt, ist Sprachskepsis:

„Da sind zuerst die fürchterlich unklaren Worte, die man gebrauchen muß, um solche Vorgänge oder Zusammenhänge zu beschreiben. Auf Schritt und Tritt Verwaschenes, oft handgreiflich Kindisches. Die summarischen dummen Worte für die Beschreibung innerer Vorgänge: Neigung, Abneigung, Abscheu, Liebe, Rachegefühl. […] Denn das Gefährliche solcher Worte ist immer, daß man mit ihnen zu erkennen glaubt; dadurch versperren sie den Zugang zu den Tatsachen. […] Die meisten Seelendeutungen sind nichts als Romandichtungen.“

Döblins Prosastück demonstriert, wie schwierig es ist, einen komplexen Sachverhalt in einer literarischen Reportage objektiv darlegen und beurteilen zu wollen. Diese Problematisierung macht den Text bis heute spannend und erkenntnisreich – gerade nach dem Fall Relotius sollte er eigentlich auf dem Lehrplan jeder Journalistenschule stehen.

Wendepunkt in Döblins Werk

Überdies markiert Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord in gleich mehrerer Hinsicht einen Wendepunkt in Döblins Werk. Der Autor richtet seine Aufmerksamkeit nach den historischen und phantastischen Großromanen nun auf seine unmittelbare Alltagswelt, auf die Großstadt Berlin und ihre Bewohner. Das Milieu, das Döblin hier erstmals so gründlich schildert, wird ihn noch ausführlicher beschäftigen, der Weg zu Berlin Alexanderplatz ist vorgezeichnet. Auch stilistisch stellt der Text eine Zäsur dar und bewegt sich weg von der ausufernden, fabulierfreudigen Sprachgewalt des Wallenstein und von Berge Meere und Giganten hin zum nüchternen, klareren Ausdruck der „Neuen Sachlichkeit“.

Doch zunächst sieht sich Alfred Döblin noch in einer Sackgasse. Am Beginn der 1920er Jahre spricht man in Literatenkreisen von einer „Krise des Romans“: Schriftstellerinnen und Schriftsteller weltweit ringen mit der epischen Form und suchen neue Möglichkeiten, die immer wildere und chaotischere Wirklichkeit des neuen Jahrhunderts angemessen zu gestalten. Gerade erst ist ein aufsehenerregender Roman des irischen Autors James Joyce erschienen, der die unmittelbare Realität der modernen Großstadt und die Zersplitterung des Individuums mit dem antiken Mythos zu verbinden sucht.

Doch bevor sich auch Döblin daran macht, das Alte und das Zeitgenössische auf experimentelle Weise ganz neu zu verknüpfen, schlägt er zunächst den Weg in die fernste Vergangenheit ein. Noch hinter Homer will er zurückgehen, um die Epik zu erneuern. Aus den Hinterhöfen Berlins zieht es ihn ins vorzeitliche Indien.

Alfred Döblin: „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“. Mit einem Nachwort von Hania Siebenpfeffer. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2013. 144 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90463-1.

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