Zurück in die Zukunft

© S. Fischer Verlag

Um die viel beklagte Krise des Romans und seines eigenen Schreibens zu überwinden, stürzt sich Alfred Döblin in die tiefste Vergangenheit der Weltliteratur. In uralten indischen Epen findet er Anregung für seine Verserzählung Manas, in der von Tod und Wiedergeburt erzählt wird, von Errettung durch Liebe und der Frage, was den Menschen zum Individuum macht.

Als Pablo Picasso im Jahr 1940 die gerade erst entdeckte Höhle von Lascaux in der Dordogne besuchte, soll er beim Anblick der fast 40.000 Jahre alten Felsmalereien ausgerufen haben: „Wir haben nichts dazugelernt!“ So beeindruckt hatten die urzeitlichen Tiergemälde den Künstler offenbar, dass er sich wenig später für eine Reihe von Lithographien von der Darstellungsweise der Höhlenmenschen unmittelbar anregen ließ.

„Hin zum Urkern des epischen Kunstwerks“

Ähnlich wie Picasso geht es Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts auch dem Schriftsteller Alfred Döblin. In mehreren gewichtigen Romanen hat er versucht, seine wahnwitzige, von zahllosen politischen, philosophischen und gesellschaftlichen Umbrüchen geformte Gegenwart literarisch zu gestalten. Und doch befindet er sich – wie viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Zeit auch – in einer Schaffenskrise. Wie soll man schreiben angesichts des Wirrwars dieser zerrissenen Jahre? Neue Mittel müssen her, das alte, realistische und naturalistische Erzählen scheint ausgedient zu haben, doch zunächst vielversprechende Innovationen wie der Futurismus haben sich als (nicht zuletzt ideologische) Sackgasse erwiesen.

Wie der spanische Maler findet auch Döblin neue Inspiration durch die Betrachtung der tiefsten, entlegensten Vergangenheit. Um die Krise des Romans zu überwinden, müsse man, so der Schriftsteller, „hin zum frischen Urkern des epischen Kunstwerks“ gelangen und „noch hinter Homer“ zurückgehen. Älter noch als Ilias und Odyssee des antiken Rhapsoden ist das etwa 100.000 Doppelverse umfassende indische Epos MahābhārataAngeregt von der archaischen Welt dieses und weiterer indischer Texte (wie dem Bhagavad Gîtâ, den Upanishaden etc.), die Döblin aufmerksam studiert, beginnt der Autor ab Anfang 1926 ein Versepos zu verfassen, dessen Fabel zwar einige Motive der Vorlagen entlehnt, aber in ihren Grundzügen ganz seiner eigenen Imagination entspringt.

Menschwerdung eines Halbgotts

Erzählt wird die Geschichte des Fürstensohns Manas, der im ersten Buch des Epos nach einer gewaltigen Schlacht angesichts des Tötens und Sterbens in Verzweiflung gerät. Er sucht das Totenfeld, eine Art Jenseits, am Himalaya auf und begegnet dort den qualvoll herumirrenden Seelen der Verstorbenen. Er begehrt, selbst zu sterben und findet schließlich den Tod. Das zweite Buch schildert die Suche Sawitris, Manas Ehefrau, nach ihrem verschollenen Mann. Sie gelangt ebenfalls zum Totenfeld und bittet den Gott Schiwa, ihr den Gatten wiederzugeben. Schiwa verlangt als Preis ihren Leib, worauf sich Sawitri dem Gott hingibt und so ihren Mann ins Leben zurückholt.

Der Halbgott gewordene, im dritten Buch wieder ins Diesseits geworfene Manas weiß nichts vom Opfer seiner Frau und hat allen Respekt vor der Götterwelt verloren. Erst eine Vision offenbart ihm die Umstände seiner Wiedergeburt, was seine Sehnsucht zu Sawitri entfachen lässt. Im finalen Kampf mit Schiwa findet Manas zu sich selbst. Er wird nun ganz Mensch, ganz Individuum, und dadurch, wie auch Sawitri, erlöst:

„Er hat geglüht wie ein Licht,
Das im Haus auf einen wartet,
Der nicht da ist,
Ein Ersehnter, einer, der wiederkommt.
– In welche Fernen stieg schon Sawitri,
Die Liebende Sonnige Würze
Taucherin in alle Welten –
Er ist nicht erloschen. Nicht erloschen.
Manas ist nicht erloschen.“

Mit diesem seltsamen, zugleich modern wie antiquiert wirkenden Text schreibt sich Döblin in die lange Tradition der deutschen Indienrezeption ein, die auf Dichter und Denker wie Goethe, Herder, Schiller, Friedrich Schlegel und Arthur Schopenhauer zurückgeht.

Ein entsetzter Verleger

Doch die Zeitgenossen Döblins finden keinen Gefallen an dieser archaischen Geschichte und der rhythmisierten, bilderreichen Sprachflut. „Wie sind Sie nur darauf gekommen?“, fragt der entsetzte Verleger Samuel Fischer den Autor, als sich der befürchtete kommerzielle Misserfolg bestätigt. Beinah überschwängliches Lob kommt dagegen vom Schriftstellerkollegen Robert Musil, der in einer Rezension die Rückkehr zur gebundenen Sprache preist. Döblin habe „die große Woge der zwischen manischer Überhobenheit und tiefer Depression liegenden Grundgefühle unserer Existenz“ erfasst.

Der Autor jedoch belässt es bei diesem einmaligen Versexperiment. Mit seinem nächsten großen Text kehrt er in die wimmelnde, chaotische Gegegenwart zurück. Doch so ganz unverwandt sind sich der Berliner Transportarbeiter Franz Biberkopf und der halbgöttliche Fürstensohn Manas nicht, wie Döblin selbst betont:

„Wenn im indischen Manas im Beginn der Held, der arme Held, sein Schicksal beklagt und sich ins Reich der Toten stürzt, zu einem neuen Leben, so sah ich jetzt einen Gelegenheitsmörder, einen bestraften Totschläger, das Gefängnis verlassen und begleitete ihn auf seinem Weg in die Stadt zurück.“

Alfred Döblin: „Manas“. Epische Dichtung. Mit einem Nachwort von David Midgley. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016. 448 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90479-2.

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