Nichts ist, wie es scheint

© Verlag Klaus Wagenbach

Ein Roman, der scheinbare Gewissheiten ins Wanken geraten lässt: In Sara Mesas Quasi begegnen sich ein alter Kauz und eine junge, etwas einsame Schülerin. Schnell wird klar, die Geschichte kann nicht gut ausgehen. Doch dieser Text über zwei Außenseiter, über Freundschaft, Vertrauen und Missbrauch zieht einem beim Lesen immer wieder den Boden unter den Füßen weg.

Ein junges Mädchen sitzt im Park, allein und halb versteckt auf der feuchten Wiese zwischen Büschen und Bäumen. Wie aus dem Nichts nähert sich ihr plötzlich ein älterer Mann. Er spricht sie an, redet seltsames Zeug. Das Mädchen fühlt sich etwas unwohl, der Mann verschwindet wieder. Am nächsten Tag ist das Mädchen wieder im Park, auch der Mann taucht wieder auf. So beginnt der Roman Quasi der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa, und wir meinen zu wissen, wie diese Geschichte weitergeht, oder besser gesagt, wie sie weiterzugehen hat. Doch in diesem Text ist nichts so, wie es zunächst scheint.

Zwei Außenseiter mit Geheimnissen

Das Mädchen ist dreizehn Jahre alt – „quasi vierzehn“ -, der Mann Mitte Fünfzig. Die Namen der beiden erfahren wir nie. Er nennt sie nur „Quasi“, sie ihn schlicht „Alter“.  Jeden Tag treffen sie sich fortan im Park, sitzen nebeneinander und reden. Denn Quasi schwänzt die Schule, in der sie gemobbt wird und sich nicht zurechtfindet. Also kommt sie hierher, in den Park. Auch der Alte ist ein Außenseiter, er hat keine Arbeit, jeden Tag trägt er denselben altmodischen und verschlissenen Anzug. Zwei Leidenschaften hat der Alte: Vogelarten und die schwarze amerikanische Sängerin Nina Simone. Nach und nach teilt er seine Begeisterung mit Quasi, weckt ihr Interesse nicht nur für die Tiere, sondern auch für Simone, deren Songtexte er auswendig kann und die er für ihr Engagement in der Bürgerrechtsbewegung bewundert. Doch bald merkt Quasi, dass etwas mit dem Alten nicht stimmt. Ein Geheimnis, dunkel und abgründig, umgibt ihn; es scheint Ursache seiner Eigentümlichkeit zu sein.

Ja, dies ist ein Text über Missbrauch, doch der Roman zerstört die Erwartungen, die wir alle – durch die #MeToo-Bewegung noch einmal sensibilisiert – an dieses Thema herantragen. Fast unmerklich zwingt der Text seine Leser*innen, die vorgefassten Ansichten, die sich während des Lesens notwendig bilden, graduell zu korrigieren. Dabei geht es in diesem Roman natürlich nicht darum, sexuelle Gewalt zu verharmlosen oder zu bagatellisieren. Ganz im Gegenteil. Doch Quasi verrückt den Rahmen, durch den wir auf dieses grausame und allgegenwärtige Phänomen unserer Wirklichkeit blicken, und stellt die eingeschliffenen Schemata des Wahrnehmens und Urteilens infrage. Missbrauch kommt eben nicht immer in den erwartbaren Formen daher, sondern kann sich auch ganz anders und ganz unerwartet zeigen. Und: Sexueller Missbrauch ist eng verknüpft mit dem Missbrauch von Macht, nicht nur insofern, als ersterer immer eine Spielart des letzteren ist, sondern auch, weil Falschbeschuldigungen Machtmissbrauch schlimmster Sorte sein können.

Unerwartete Wendungen

Doch wie schafft es der Text, dieses schwierige und hochsensible Thema zu verhandeln? Indem er, und das ist das Bemerkenswerte, niemals aus dem Narrativen herausfällt, nirgendwo ins Essayistische oder Reportagehafte abgleitet. Hier wird erzählt, sonst nichts. Wie aber erzählt wird, das kann man nicht genug loben. Der Autorin gelingt es auf fast unheimliche Weise, eine unerwartete Wendung nach der anderen hervorzuzaubern und ihre Figuren so um immer neue Facetten, Eigenschaften und Details zu ergänzen, ohne jedoch, dass der Text an irgendeiner Stelle auseinanderfallen würde. Alles wirkt wie aus einem Guss und in sich stimmig – auch wenn der Leser immer wieder überrascht wird. Am Ende runden sich die zunächst ein wenig blass und stereotyp wirkenden Gestalten – das junge, einzelgängerische Mädchen und der alte Kauz – zu lebensechten, also widersprüchlichen Charakteren.

An diesen irisierenden Figuren und ihrer Geschichte wird gezeigt, was auch im Leben immer wieder überraschen kann, dass nämlich der erste Eindruck eines Menschen, eines Dings oder Sachverhaltes oft irreführend ist, dass wir Ambiguitäten verdrängen oder nicht wahrhaben wollen. Denn es ist unangenehm, Mehrdeutigkeit und Inkonsistenzen zu akzeptieren und die Fragwürdigkeit scheinbarer Gewissheiten anzuerkennen. Zum Glück gibt es die Literatur, denn es ist nicht die unwichtigste Eigenschaft fiktionaler Texte, immer wieder an die trügerisch schillernde Komplexität der Wirklichkeit zu erinnern. Sara Mesas kleiner Roman Quasi, glänzend übersetzt von Peter Kultzen, demonstriert dies auf eindrucksvolle Weise.

Sara Mesa: „Quasi“. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 144 Seiten, Klappbroschur. ISBN 978-3-8031-3321-2.

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