Wie wird man zum Mitläufer?

© Klett-Cotta Verlag

Josef Klein ist ein Mann ohne Ambitionen. Ausgewandert nach New York lebt er vor sich hin, seine einzige Leidenschaft ist das Funken. Anfang der 30er Jahre wird er von einem Spionagering der deutschen Abwehr angeworben und lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein. Ulla Lenzes spannender Roman zeigt, wie ein völlig passiver Mensch zum Nazi-Mitläufer wird.

Über den Zweiten Weltkrieg, so meint man, wissen wir allmählich alles. Es gibt kaum einen Aspekt dieser schrecklichsten aller Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der nicht von allen Seiten ausgeleuchtet worden wäre. Nicht nur die Geschichtsschreibung, die seriöse wie die populäre, auch die Literatur der letzten 75 Jahre hat sich immer wieder mit diesem Thema beschäftigt. Und ist oft gescheitert. Dennoch ist das Thema nicht totzukriegen. Dem Trend zu (auto-)biographischen Stoffen folgend erscheinen gegenwärtig mehr und mehr Romane, die sich an den Lebensgeschichten historischer Personen orientieren. Nicht selten enden derlei Versuche in monströsen Peinlichkeiten.

Nazi-Spion in New York

Der Autorin Ulla Lenze (*1973) dagegen ist mit ihrem neuen Roman Der Empfänger ein doppeltes Kunststück gelungen. Sie hat in der eigenen Familiengeschichte ein Thema gefunden (oder war es umgekehrt?), dem bislang weder von der historischen Forschung noch von der Literatur sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt worden ist: die Spionage der nazideutschen Geheimdienste in den USA. Und ihr Text ist spannend, unterhaltsam und zeitkritisch zugleich, ohne je in Klischee oder Kitsch abzugleiten. Erzählt wird der Lebensweg des Großonkels der Autorin, eines Rheinländers aus ärmlichen Verhältnissen namens Josef Klein, der im Jahr 1925 die Auswanderung in die USA wagt. Ein Einzelgänger ohne große Ambitionen, fasst er in der Metropole New York zunächst schwer Fuß. Karriere interessiert ihn nicht, er bleibt ein Sonderling, der sich gerade so über Wasser hält. Seine einzige Leidenschaft wird das Funken, für das er sich eine eigene Anlage baut. Schließlich findet er eine halbwegs auskömmliche Arbeit in der Druckerwerkstatt eines Landsmannes, wo Flugblätter für antisemitische Vereinigungen produziert werden.

Die 30er Jahre sind angebrochen, und in Europa breiten sich Faschismus und Nationalsozialismus immer mehr aus. Auch in den USA gibt es rechtsextreme Zirkel, die mit Hitler sympathisieren – nicht nur innerhalb der deutschen Emigrantengemeinschaft. Wegen seiner Tätigkeit als Funker gerät Josef eines Tages in den Bannkreis eines obskuren Spionagenetzwerkes der Nazis. Im Auftrag desselben soll er Militärgeheimnisse verschlüsselt ins Deutsche Reich senden. Etwa zeitgleich lernt er beim Funken auch eine junge Frau kennen, die wesentlich jüngere Amerikanerin Lauren, mit der er sich trifft und schließlich eine Affäre beginnt. Die angehende Studentin weiß anfangs nichts von Josefs Verbindungen zur deutschen Abwehr. Er selbst fühlt sich von Auftreten und Ideologie der Nationalsozialisten in den USA keineswegs angezogen. Eher zufällig und ohne recht zu wissen, was er da tut, verstrickt er sich immer tiefer in die lebensgefährliche Spionagetätigkeit.

Einer, der sich treiben lässt

Schließlich landet Josef dort, wo seine Einwanderungsgeschichte begonnen hat, auf Ellis Island. Jahrelang bleibt er in dem dort eingerichteten Internierungslager für politische Häftlinge, bis nach dem Ende des Krieges die Abschiebung in die Bundesrepublik erfolgt. Hier kommt er zunächst bei seinem Bruder Carl unter, der ursprünglich mit Josef gemeinsam auswandern wollte. Haben die beiden während der Zeit der Emigration noch lockeren Briefkontakt gehalten, ist ihr Verhältnis mittlerweile angespannt. Auch die unterschiedlichen Erfahrungen haben zur Entfremdung beigetragen: Josef hat Diktatur und Krieg nicht selbst miterlebt, in der Nachkriegsgesellschaft mag er sich nicht mehr einfinden. Schließlich versucht er, erneut die alten Netzwerke der Nazispione nutzend, in Lateinamerika einen Neuanfang – mit ungewissem Ausgang.

Josef Klein ist der typische Mitläufer, der wenig weiß, weil er nichts wissen will, der sich immer tiefer im Netz der dunklen Macht verfängt, weil er keinen Widerstand zu leisten vermag. Statt eines Getriebenen ist er einer, der sich treiben lässt, eine rein passive Figur ohne Ehrgeiz oder starken Willen. Das einzige Buch, das er liest, ist Thoreaus Walden. Der dort beschriebene Rückzug in ein einfaches, einsames Leben wird Josef zum Vorbild, doch versagt diese Existenzweise notwendig im Angesicht des heraufziehenden Faschismus. Selbst Lauren, die er mag, wenn auch nicht wirklich liebt, gelingt es nicht, ihn aus seiner phlegmatischen Lebensweise herauszureißen und ihm vor Augen zu führen, mit wem er sich da eingelassen hat. Zum Mitläufer, so erzählt es dieser Roman, wird man weder durch böse Absicht noch durch Zufall – es geschieht mit einem, aber nur dann, wenn man es geschehen lässt.

Souverän gemachter Text

Zu den Stärken dieses Romans zählt, neben der Originalität des Themas, seine außerordentlich souveräne Machart. Wie die drei verschiedenen Zeitebenen ineinander verschachtelt werden, wie die Chronologie des Erzählten aufgehoben wird und zugleich ein dramatisch suggestiver Spannungsbogen aufrechterhalten wird, ist sehr gekonnt. Und auch sprachlich vermag das Buch von Anfang an einen Sog zu erzeugen, dem man nicht mehr entkommen kann. Doch die Stärken des Textes sind gleichzeitig auch seine Schwächen. Ein wenig zu routiniert, zu glatt wird hier erzählt, und letztlich bleiben die Figuren eher blass. Das gilt nicht nur für den lethargischen Mann ohne Eigenschaften Josef Klein, sondern leider auch für Lauren, Josefs Bruder Carl und dessen Frau Edith. Zwischen dieser und Josef deutet sich eine zarte erotische Spannung an, die jedoch, wie alles in Josefs Leben, ins Nichts führt.

Auch bleibt nach der Lektüre die Frage in der Luft stehen, was man mit dem peritextuellen Hinweis anfangen soll, die Autorin habe hier – mit aller literarischen Freiheit – die Lebensgeschichte ihres Großonkels verarbeitet. Denn diese Beziehung wird erzählperspektivisch nirgends fruchtbar gemacht. Eine Ebene, auf der eine Problematisierung der Erzählsituation oder auch nur deren Reflexion möglich wäre, gibt es nicht. Vielleicht aber hätte man damit diesen süffig-spannenden Pageturner auch nur unnötig überfrachtet.

Ulla Lenze: „Der Empfänger“. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 302 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-608-96463-9.

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