Schuld und Sonne

© Kein & Aber Verlag

Der 17jährige Léo beobachtet während im Campingurlaub eines Nachts den Tod eines anderen Jungen. Er greift nicht ein. War es ein Unfall? War es Selbstmord? Ist Léo mitschuldig? Er versteckt die Leiche, doch sein Gewissen plagt ihn weiter. Die scheinbar lässig-entspannte Ferienatmosphäre wandelt sich in Hitze, dem Debütroman von Victor Jestin, zum Albtraum.

Es ist Sommer, es ist heiß. Léonard, siebzehn Jahre alt, macht Campingurlaub mit seiner Familie am Meer. Ein Tag gleicht dem anderen, die langersehnten Ferien sind zu einer amorphen Eintönigkeit geronnen. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes, Brutales: Oscar, eine Urlaubsbekanntschaft, stirbt eines Nachts auf dem Spielplatz in den Dünen, er stranguliert sich selbst in den Seilen der Schaukel. Léo beobachtet sein Sterben ohne einzugreifen. Aber war es wirklich Selbstmord? Oder doch ein Unfall? Schuldgefühle keimen auf. Warum hat Léo nur zugesehen und nichts getan? Weil Skrupel ihn plagen und er der Letzte war, der Oscar lebend zu Gesicht bekommen hat, muss die Leiche verschwinden. Noch in der Nacht zieht Léo den Körper an den Strand und vergräbt ihn im Sand.

Niemand scheint den Toten zu vermissen

Der nächste Morgen bricht an, alles ist wie immer: Erwachsene, Kinder und Jugendliche vergnügen sich auf dem Campingplatz, am Strand und im Meer. Doch Léo kann nicht vergessen, was in der Nacht geschehen ist, er kann die Bilder des langsam erstickenden Oscars nicht verdrängen und seine Gewissensbisse nicht abstreifen. Zunächst scheint niemand Oscar wirklich zu vermissen, niemand bis auf Claire, seine Mutter, die sich allmählich Sorgen macht. Aber irgendwo wird Oscar die Nacht schon verbracht haben, schließlich sind die Jugendlichen ja hier, um Spaß zu haben, um die Freiheit und Zwanglosigkeit des Urlaubs zu genießen, jede Menge Alkohol zu trinken und unverbindliche sexuelle Erfahrungen zu machen.

Plötzlich taucht Luce bei Léo auf, die er in der Nacht zuvor mit Oscar gesehen hat. Die beiden haben sich geküsst, kurze Zeit später ist er gestorben. Jetzt lernt Léo das Mädchen näher kennen und langsam entwickelt sich etwas zwischen ihnen. Aber Léo ist sich weder der Gefühle Luces sicher noch seiner eigenen. Verwirrend ist auch das Verhalten seines einzigen anderen Freundes auf dem Platz, Louis, der allerlei Mädchen anflirtet und damit prahlt, unbedingt vor der Abreise noch Sex haben zu wollen. Doch Louis‘ Macho-Fassade scheint nur errichtet zu sein, um von etwas ganz anderem abzulenken. Denn für niemand interessiert er sich so wie für Léo.

Photo by Kimson Doan on Unsplash
Absurdität und Gewalt

Victor Jestins (*1994) Debütroman ist eine Coming-of-Age-Geschichte, in der nicht nur die typischen Pubertätsprobleme dargestellt werden: die Schwierigkeiten mit der sich entfaltenden und bald quälenden Sexualität, das distanzierter werdende Verhältnis zu den Eltern und die großen Sinn- und Existenz- und Zukunftsfragen. Ähnlich wie in Janne Tellers Roman Nichts (2000) öffnet sich inmitten all dessen plötzlich ein Abgrund aus Absurdität und Gewalt. Erwachsenwerden kann eben auch tödlich sein.

Die scheinbar lässig-entspannte, sonnendurchflutete Ferienatmosphäre der französischen Atlantikküste erweist sich auf den zweiten Blick als groteskes, grausames Abbild einer gesellschaftlichen Realität, die Spaß und Fröhlichkeit nur vortäuscht, während unter der Oberfläche nichts als Konkurrenzkampf, Vereinsamung und Grausamkeit regieren. Man amüsiert sich buchstäblich zu Tode. Das alles hat man schon oft gelesen, es sind Topoi, die in der französischen Gegenwartsliteratur (etwa bei Michel Houellebecq) bis zum Überdruss verhandelt worden sind. Doch Jestins Hitze zeichnet sich, anders als so viele andere Debütromane, durch ein sehr klug kalkuliertes, ökonomisches Erzählen aus. Hier ist kein Wort zu viel, nichts wirkt überladen, geschwätzig oder manieriert. Es wird schlank und schlicht erzählt und doch mit großer Wirkung.

Nur da, wo allzu krampfhaft versucht wird, einen symbolischen Bezug zwischen den Urlaubern am Strand und dem Zustand der französischen Gesellschaft als solcher herzustellen, muss man Abstriche machen. Auch die Charakterzeichnung ist, vom Protagonisten abgesehen, nicht besonders komplex gelungen. Doch mag das auch daran liegen, dass man hier meint- wie üblich in den letzten Jahren -, eine längere Erzählung unbedingt als Roman vermarkten zu müssen. Sei’s drum. Auf den weiteren Weg dieses Autors darf man gespannt sein.

Victor Jestin: „Hitze“. Roman. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Kein & Aber Verlag, Zürich 2020. Hardcover, 160 Seiten. ISBN 978-3-0369-5828-6.

Kommentar verfassen