Dichter im Abwasserkanal

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Und wieder ein neues Buch von Roberto Bolaño. Seit bald zwanzig Jahren ist der Chilene tot, doch sein Werk noch immer nicht vollständig erschlossen. Soll man auch diesen Fund lesen? Unbedingt. Neben vexierbildhaften Auseinandersetzungen mit der eigenen Lebensgeschichte enthält dieser Band eine späte, wunderbar surrealistische Erzählung über eine Dichtergruppe, die sich in die Kanalisation von Paris zurückzieht, um die Revolution vorzubereiten.

Wenn ein Autor lange tot ist und trotzdem immer noch und immer wieder Neues aus dem Nachlass seines Werkes erscheint, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen.  Muss wirklich alles veröffentlicht werden, was sich irgendwo im hintersten Winkel verstaubter Aktenordner, Festplatten oder Disketten findet? Manchmal steckt hinter solchen Manövern nur der Wunsch der Erben, den Namen einer verstorbenen Berühmtheit noch einmal zu Geld zu machen; manchmal auch die Hybris der Philologen, wirklich alles publizieren zu wollen, und sei es auch das kleinste Nebenwerkchen oder der unfertigste Entwurf eines Romans.

Autobiographische Erzählungen

Doch all dies gilt nicht im Fall des 2003 mit nur fünfzig Jahren verstorbenen chilenischen Autors Roberto Bolaño, der erst gegen Ende seines zu kurzen Lebens internationalen Ruhm erlangte und dessen Prosawerk in seiner ganzen Pracht erst nach seinem Tod greifbar wird. Jetzt sind noch einmal drei Erzählungen Bolaños aus dem Nachlass herausgegeben worden und diesen Fund sollte man wirklich nicht verpassen. Zwei der Texte, die titelgebende Erzählung Cowboygräber und Vaterland, sind im Umkreis des großen Romans Die wilden Detektive Anfang/Mitte der 90er Jahre entstanden. Die dritte Erzählung mit dem seltsam anmutenden Titel Komödie vom Schrecken von Frankreich stammt aus den letzten Lebensjahren des Autors.

Bei den ersten beiden, aus Einzelepisoden bestehenden Geschichten handelt es sich um Texte, in denen Bolaño in der Maskierung verschiedener Alter Egos mit Details seiner verschlungenen Lebensgeschichte spielt. Sie handeln von der jugendlichen Identitätssuche ihres Protagonisten zwischen Mexiko und Chile, von literarischen, politischen und erotischen Initiationen, und nicht zuletzt von jenem Datum, das in Leben und Werk dieses Autors eine immense Rolle spielt, den 11. September 1973, als das chilenische Militär gegen die sozialistische Regierung Allende putschte. Auch der junge Bolaño, der wenige Monate zuvor aus Mexiko, wo er seine Jugend verbrachte, nach Chile zurückgekehrt war, geriet in Haft, wurde gefoltert, aber schon nach einer Woche wieder auf freien Fuß gesetzt. All diese Themen und Motive kennt man aus den berühmten Romanen des Schriftstellers; Bekanntes wird hier- durchaus reizvoll – variiert.

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Eine obskure Literatengruppe aus der Kanalisation

Zum Ereignis wird dieser Band aber durch die letzte Geschichte Komödie vom Schrecken von Frankreich, eine meisterhaft komponierte, rätselhafte und herrlich komische Erzählung, die in Französisch-Guyana spielt. Ein junger Nachwuchsdichter mit Namen Diodoro Pilon – natürlich handelt es sich auch hier wieder um eine Spiegelfigur des Autors – ist Teil eines avantgardististischen Dichterzirkels. Man diskutiert über Literatur nicht weniger als über Politik – beides gilt es schließlich zu revolutionären. Doch die Hoffnung, dass die Utopien Wirklichkeit werden, ist brüchig. Eines Nachts, auf dem Heimweg von einer Zusammenkunft der Lyriker, streift Diodoro durch ein ihm unbekanntes Viertel der Stadt und erblickt eine Telefonzelle, die plötzlich läutet.

Am anderen Ende meldet sich ein Mann aus Paris. Er hat angeblich nur auf Diodoro gewartet und versucht sogleich, den verdutzten jungen Dichter für eine obskure Literatengruppe, die sogenannte Surrealistische Untergrundliga, zu gewinnen. Dabei handelt es sich nach Auskunft des Anrufers um eine von dem verstorbenen französischen Schriftsteller André Breton (1896-1966) ins Leben gerufene Vereinigung von Lyrikern, die ihr verborgenes Geschäft einer politisch-psychologischen Erneuerung von Literatur und Politik buchstäblich aus dem Untergrund, nämlich von der Kanalisation der Stadt Paris aus betreibt.

Auch in dieser Geschichte gibt es viele Querverbindungen zu anderen Texten Bolaños. Zum einen knüpft der Autor hier an seine frühen, vom europäischen Surrealismus beeinflussten Texte wie den erst kürzlich erstmals auf Deutsch erschienenen Roman Monsieur Pain an, zum anderen verweist die „Surrealistischen Untergrundliga“ natürlich auf die Dichtertruppe der „Realviszeralisten“ aus Die wilden Detektive.  Immer wieder tauchen im Werk dieses Autors verschrobene Literatenzirkel auf, die nicht nur die Kunst, sondern immer auch die Gesellschaft revolutionieren wollen, deren avantgardistisch-konspirative Utopien aber notwendig zum Scheitern verurteilt sind. Der ewige Gegensatz zwischen einer grausam-gleichgültigen Wirklichkeit und dem hehren, aber auch ein wenig skurrilen Anspruch der Kunst, die Verhältnisse umzustürzen – er wird nur selten so wunderbar inszeniert wie hier.

Roberto Bolaño: „Cowboygräber“. Drei Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen und Luis Ruby. Mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg. Hanser Verlag, München 2020. Hardcover, 192 Seiten. ISBN 978-3-446-26557-8.

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