If you can make it there…?

© Nagel & Kimche

Ann Petrys Roman Die Straße aus dem Jahr 1946 ist ein Klassiker der afroamerikanischen Literatur, der jetzt in einer wunderbaren Übersetzung endlich auf Deutsch vorliegt. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die mit ihrem Sohn in Harlem die Erfüllung des Amerikanischen Traumes sucht, dabei aber immer wieder mit der harten Realität von Rassismus und Sexismus konfrontiert wird.

Zu den erfreulichsten Trends des deutschsprachigen Buchmarktes zählt die (Wieder-)Entdeckung afroamerikanischer Klassiker des 20. Jahrhunderts. Zora Neale Hurston, Nella Larsen, James Baldwin, Maya Angelou, Richard Wright, Ralph Ellison und andere werden durch sorgfältige Neu- und Erstausgaben geehrt. Dies ist wichtig und richtig, aber man fragt sich doch, warum das so lange gedauert hat. US-amerikanischer Literatur wird in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine große, manchmal auch übergroße Aufmerksamkeit zuteil, doch die kanonischen Texte von Black America haben hierzulande bislang, von Ausnahmen wie der Nobelpreisträgerin Toni Morrison abgesehen, eher ein Nischendasein geführt.

Schön, dass sich das im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung endlich ändert und nun auch bei uns ein Autor wie James Baldwin, der für die US-amerikanische Literatur des letzten Jahrhunderts von mindestens ebenso großer Bedeutung ist wie Bellow, Carver oder Yates, Editionen erhält, die seiner würdig sind. Bei den Frauen sieht es leider schon wieder anders aus. Maya Angelou etwa wurde bei Suhrkamp nur als Taschenbuch herausgebracht – ohne Anmerkungen, Nachwort oder auch nur einer editorischen Notiz.

Glanzvolle Neuübersetzung

Anders hat es nun der Verlag Nagel & Kimche gemacht, der das Hauptwerk der vielleicht wichtigsten afroamerikanischen Schriftstellerin der 1940er und ’50er Jahre gebunden in einer glanzvollen Neuübersetzung von Uda Strätling vorgelegt hat. Ann Petrys Die Straße, erstmals 1946 erschienen, ist ein Roman, der sich allen Versuchen der Einordnung immer wieder entzieht. Erzählt wird eine zunächst typisch amerikanisch anmutende Geschichte: Ein Mensch will nach oben. Doch Lutie Johnson, die ebenso kluge wie attraktive Heldin dieses Buches, hat es aus zwei Gründen schwer: Sie ist erstens schwarz und zweitens eine Frau. Als Hausmädchen in einem weißen Haushalt kommt sie mit dem bedingungslosen Aufstiegswillen der Mittelschicht in Berührung. Aber kann wirklich jeder reich werden, wenn er nur hart genug arbeitet?

Lutie muss rasch feststellen, dass diese Verheißung für sie nicht gilt. Weil sie die ganze Woche außerhalb der Stadt als Hausmädchen in einem weißen Vorort beschäftigt ist, wird sie von ihrem arbeits- und perspektivlosen Mann Jim schließlich betrogen. Die Ehe zerbricht, und Lutie zieht mit ihrem kleinen Sohn Bubb nach Harlem in die 116. Straße, wo die Mieten zwar relativ billig sind, aber Armut und Gewalt den Alltag prägt. Aufgeben kommt jedoch nicht infrage: Ihr Ziel, für sich und vor allem für Bubb eine bessere Zukunft zu gestalten, bleibt Lutie Johnson vor Augen.

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 Grenzen des Amerikanischen Traums

Auf eindringliche Weise zeigt dieser Roman die Grenzen und Beschränkungen des sogenannten Amerikanischen Traums, den Lutie Johnson wie Millionen andere träumt. Ein Ausbruch aus dem Ghetto Harlem, das hier nicht als das ikonisch gewordene schwarze Künstler- und Intellektuellenviertel gezeichnet wird, scheint unmöglich. Lutie begegnet kein W. E. B. Du Bois oder Langston Hughes, schon gar keine Anne Spencer. Stattdessen lauert im Erdgeschoss des Mietshauses ein verschrobener, lüsterner und zutiefst bösartiger Hausmeister, der sofort ein Auge auf die neue Mieterin wirft. Und auch die undurchsichtige Mrs. Hughes zeigt sich zwar hilfsbereit und freundlich, betreibt aber in ihrer Wohnung ein Bordell und würde auch Lutie allzu gern für sich arbeiten lassen.

Erzählt wird Die Straße in einer sachlich-realistischen Sprache. Die experimentellen US-amerikanischen Erzähler des frühen 20. Jahrhunderts wie John Dos Passos oder William Faulkner sind kein Vorbild für Ann Petry. Doch hier ist auch kein planer Naturalismus am Werk. Stattdessen erinnert diese Prosa nicht nur von ferne an eine deutlich frühere Erzähltradition, an den Engländer Charles Dickens etwa, für dessen sozialkritische Romane ein komplexes Geflecht höchst individuell gezeichneter Figuren charakteristisch ist. Auch die Figuren in Petrys Roman sind markant und eigenwillig, auf den ersten Blick eher Typen denn wirklichkeitsnahe Personen. Doch der Eindruck täuscht, denn im Verlauf des Romans entfalten die einzelnen Figuren immer neue Facetten, erscheint eine frühere Handlung schlagartig in anderem Licht. Mutet der Text zunächst reichlich konventionell, ja kolportagehaft an, entfaltet sich mit jedem neuen Kapitel seine Mehrdimensionalität.

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Rassismus und Sexismus gehen Hand in Hand

Das wird etwa deutlich an der Figur des schwarzen Bandleaders Boots, der Lutie als Sängerin für Juntos Nachtclub anheuern will. Seine Absichten wirken unmittelbar zweifelhaft, seine ganze Erscheinung reichlich sinister, er erscheint zunächst als ein klassischer B-Movie-Bösewicht. Doch rasch wird klar, dass auch Boots unter Zwängen leidet. Sein Boss Junto, ein Weißer, hat ein Auge auf die hübsche Lutie geworfen; Boots soll sie gefügig machen und ihm dann zuführen. Doch er tut all das nicht freiwillig, er hat eine Vergangenheit, die ihn zu dem gemacht hat, was er nun darstellt. Als Schaffner in einem Zug hat er jahrelang die volle Wucht des Rassismus spüren müssen, er war dort ein Niemand, eine identitätslose, bloß anderen dienende Existenz. Doch auch wenn Boots jetzt über einen etwas größeren Spielraum zur Selbstverwirklichung verfügt, arbeitet er nach wie vor für einen Weißen und wird von einem rassistischen System instrumentalisiert.

Und am Beispiel der zunächst unscheinbar wirkenden Freundin des bösartigen Hausmeisters verdeutlicht der Text, wie neben dem Rassismus  der weißen Mehrheitsgesellschaft den  schwarzen Frauen auch Sexismus und patriarchalische Unterdrückung innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft zu schaffen macht. Min lebt mit dem Hausmeister Jones nur zusammen, weil dieser sie ernährt und beherbergt. Doch bald spürt sie, dass Jones immer mehr von Lutie angezogen wird und Min gegenüber Gleichgültigkeit und Hass aufbringt. Aus dem unscheinbaren, in der dunklen Wohnung gleichsam versteckt lebenden Frau wird ein selbstbewusst handelnder Mensch. Sie nimmt ihr Schicksal in die eigene Hand und beschließt, sich nicht einfach wieder vor die Tür setzen zu lassen.

Beharrlicher Liberalismus

Überhaupt beeindruckt der Text neben seiner komplexen Figurenzeichnung vor allem durch seinen widerständigen Liberalismus. Ja, es gibt turmhohe Schranken für die schwarze Bevölkerung Harlems. Ja, Hass und Unterdrückung, Armut und Ausgrenzung sind allgegenwärtig. Doch die Lösung – und sei sie auch noch so fern und unwahrscheinlich – für ein freies, eigenständiges Leben liegt allein in der Selbstbehauptung des Einzelnen. Anders als bei Richard Wright und ganz ähnlich wie in Baldwins Romanen liegt das Heil nicht in einem Klassenbewusstsein, das von Hautfarbe nur scheinbar nichts wissen will.

Und auch, wenn am Ende der Eindruck entsteht, dass Lutie Johnson scheitert, wenn ihre Wünsche und Erwartungen gegen die grausame Realität der Straße keine Chance zu haben scheinen, bleibt ein Rest Hoffnung, ein Fünkchen Trost, dass nicht alles umsonst gewesen sein mag. Den unbedingten Optimismus, letztlich könnte doch alles besser werden, als es ist, mögen weder Lutie Johnson noch dieser Roman einfach aufgeben

Ann Petry: „The Street. Die Straße“. Roman. Mit einem Nachwort von Tayari Jones. Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling. Nagel & Kimche, München 2020. 384 Seiten, Hardcover. ISBN 978-3-312-01160-5.

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