Warten auf die Barbaren

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Dino Buzzatis Klassiker über einen jungen Leutnant, der sein Leben mit dem Warten auf die entscheidende Bewährungsprobe verplempert, ist einer der großen existentialistischen Romane des 20. Jahrhunderts. Zugleich aber lässt sich Die Tatarenwüste aus dem Jahr 1940 als Reflexion über das unpolitische Wegschauen und Nicht-Wahrhaben-Wollen in Zeiten des Faschismus lesen.

Der Existentialismus ist zuletzt offenbar wieder in Mode gekommen. Das französische Dreigestirn Sartre, de Beauvoir und Camus erfreut sich neuer Beliebtheit. Mit dem Beginn der Covid-19-Pandemie avancierte Albert Camus‘ Die Pest kurzfristig zum wohl meistgelesenen Roman Europas, und schon seit längerem haben die theoretischen Schriften Simone de Beauvoirs dank der sogenannten Dritten Welle des Feminismus neue Leser*innen gefunden. Diese Wiederentdeckungen mögen zwar kein Zufall sein – schließlich weist unsere gefährdete und prekär gewordene Gegenwart mehr als nur oberflächliche Parallelen zum Entstehungskontext der kanonischen Texte des literarischen Existentialismus auf -, doch bei genauerer Relektüre findet sich neben einigem Weizen auch reichlich Spreu. Die Pest etwa leidet an weltanschaulicher Überfrachtung, die den Auftrieb einer freien literarischen Imaginationskraft von vornherein verhindert, Sartres Ekel liest man heute mit Verwunderung und Befremden angesichts des darin breitgetretenen maßlosen Selbstmitleids, und de Beauvoirs Romane sind – anders als ihre theoretischen Texte – vor allem eines: viel zu lang.

Legendärer Reporter

So stammt der vielleicht beste „existentialistische“ Roman des 20. Jahrhunderts nicht aus französischer Feder, sondern von einem italienischen Schriftsteller und Journalisten, der mit den philosophischen Höhenflügen der Aprikosencocktails schlürfenden Pariser Dreifaltigkeit zunächst kaum Berührung hatte. Dino Buzzati (1906-1972) wurde zwar in eine vornehme und alte Mailänder Familie hineingeboren, sein Weg als Autor jedoch begann recht unglamourös. Er studierte zunächst Jura und absolvierte den mehrjährigen Militärdienst, bevor er ab 1928 als Reporter bei der angesehenen Zeitung Corriere della Sera landete, für die er dann sein Leben lang, zuletzt auch als Chefredakteur, tätig blieb. Legendär sind seine Reportagen über das Mailänder Rotlicht- und Verbrechermilieu sowie die Artikelserie über den Giro d’Italia 1949, den er als fast homerisches Duell zweier rivalisierender Radrennfahrer inszenierte. Neben seiner journalistischen Arbeit schrieb er immer wieder literarische Texte, die erst mit der Zeit ihre Wirkung entfalteten.

Die Tatarenwüste, 1940 erschienen, gilt heute als Buzzatis wohl bekanntester und bedeutendster Roman. Erzählt wird wenig in diesem Text, gezeigt aber umso mehr. Der junge Leutnant Drogo wird auf eine einsame Bergfestung an der Grenze eines ungenannten Reiches versetzt. Hier erwartet man den Angriff des mysteriösen Nachbarvolkes, der sogenannten Tataren. Drogo ist anfänglich wenig glücklich darüber, so tief im Niemandsland seinen Dienst verrichten zu müssen, weit entfernt vom städtischen Treiben und der Gesellschaft schöner Frauen. Schon bald erlebt er das Paradox der Zeit: Die Uhren scheinen hier oben stillzustehen, doch das ist nur eine gefährliche Illusion, eine böse Täuschung. Zwei Jahre sind wie im Flug vergangen.

„Giovanni Drogo hatte gewartet und gewartet, in der Gewißheit, daß das Leben für ihn Besonderes bereithalte. Zweiundzwanzig Monate sind eine lange Zeit, in der sich viel ereignen kann. Sie genügen, damit eine Familie sich bildet, damit Kinder zur Welt kommen und zu sprechen beginnen. Wo eine Wiese gewesen ist, kann inzwischen ein Haus stehen […].
Drogos Dasein hingegen war gleichsam stehengeblieben. Derselbe Tag mit immer denselben Dingen hatte sich Hunderte von Malen wiederholt und ihn keinen Schritt vorwärtsgebracht. Der Strom der Zeit ging über die Festung hin, ließ die Mauern zerbröckeln, schwemmte Staub und Steinsplitter mit sich fort, feilte an den Treppenstufen und Ketten, doch Drogo blieb davon unberührt. Noch war es der Zeit nicht gelungen, auch ihn mit sich zu reißen.“

Mit der Zeit gewöhnt sich Drogo an die immer gleichen Rituale und den einförmigen Tagesablauf; die Erwartung des glorreichen Kampfes um die Verteidigung des Vaterlandes weckt seinen Stolz. Der Angriff allerdings bleibt aus. In der Wüste, auf die die Festung blickt, passiert nichts. Ein Aufmarsch der Feinde findet und findet nicht statt.

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Das Leben zieht ereignislos vorbei

Die Jahre vergehen, ohne dass irgendetwas von Bedeutung geschieht. Der immer gleiche Dienst und kurze Expeditionen in die nähere Umgebung der Festung bestimmen den Alltag. Einmal kommt der nicht mehr ganz so junge Leutnant Drogo wieder in seine Heimatstadt, doch hier ist er zum Fremden geworden. Die alten Freunde aus Kinder- und Jugendtagen haben längst Karriere gemacht und Familien gegründet. Doch an Drogo zieht das Leben ereignislos vorbei, bis er schließlich in den Ruhestand verabschiedet werden soll. Da plötzlich geschieht es doch: Das riesige Heer des Feindes marschiert in der Wüste auf, ein Angriff scheint nun wirklich kurz bevorzustehen. Doch Drogo ist mittlerweile zu alt und kraftlos, um noch am Kampf teilnehmen zu können. In einem Wagen wird er fortgebracht, als sich ereignet, worauf er sein ganzes Leben vergeblich gewartet hat.

Buzzatis Roman ist eine Fabel in der Manier Franz Kafkas, dessen Parabel Vor dem Gesetz aus dem Roman Der Proceß die unmittelbare Anregung gegeben haben mag. Die universalistische, vielleicht ein wenig oberflächliche Lesart von Buzzatis Textes liegt auf der Hand: Das moderne Individuum beschäftigt sich lebenslang nur mit Nebensächlichkeiten, während die Zeit unaufhaltsam wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Bevor der Mensch sich’s versieht, ist das Leben vorbei, ohne dass etwas Wesentliches geschehen wäre. Das tägliche Einerlei besteht aus den immer gleichen, leeren Ritualen, aus bedeutungslosen Gesten und Handlungen. Sinnhaftigkeit ist nur Einbildung, denn während man das große Ereignis herbeizuhoffen versucht, entgeht einem das Wesentliche.

Kein Ausbrechen aus der Indifferenz

Doch neben dieser heute gewiss nicht mehr überraschenden oder frischen Lesart des Romans, die tatsächlich an Camus erinnert (auch wenn man sich Buzzatis Sisyphos kaum als glücklichen Menschen vorstellen mag), drängt sich eine andere Deutung auf, sofern man den Text zu seinem erweiterten Entstehungskontext in Bezug setzt. Buzzati arbeitet in den späten Dreißiger Jahren, wie bereits erwähnt, als Journalist für den Corriere della Sera. Wie jeder ambitionierte Schriftsteller sieht er diese Tätigkeit weniger als Erfüllung denn als eine Art Brotberuf an. Was er seit der Kindheit in der Hauptsache will, ist Literatur zu verfassen. Doch als Buzzati sich 1928 entschloss, Journalist zu werden, war Mussolini bereits seit sechs Jahren an der Macht. Der Schriftsteller ist inzwischen längst dem faschistischen Journalistenbund beigetreten und beileibe kein Oppositioneller. Dazu muss man wissen, dass im faschistischen Italien anders als im nationalsozialistischen Deutschland die Medien nicht gleichgeschaltet sind. Zwar übt die Regierung Druck aus und befördert ihr genehme Personen an zentrale Schaltstellen der Presseorgane, doch die Berichterstattung ist wesentlich freier als in Hitler-Deutschland. Gleiches gilt für die Literatur: Auch hier gibt es zwar Propaganda, doch eine teils explizit linke literarische Avantgarde kann, zumindest in den 20er und 30er Jahren, noch recht unbehelligt tätig sein, sofern sie auf allzu offensichtliche Kritik am Regime verzichtet.

Buzzati selbst ergreift in den Jahrzehnten des italienischen Faschismus nie Partei. Er huldigt Mussolini nicht, lehnt ihn aber auch nicht ausdrücklich ab. Als Schriftsteller wie als Journalist bleibt er weitgehend unpolitisch. Gerade diese Haltung manifestiert sich in seinem passiv-naiven Helden Drogo. Wie dieser versäumte auch Buzzati die Gelegenheit, aus der Eintönigkeit des Konformismus und der Indifferenz auszubrechen. Stattdessen lässt er sich einlullen, macht weiter und weiter, eingespannt in ein festes, nicht zu hinterfragendes Reglement, bis die als Wirklichkeit akzeptierte Scheinwelt schließlich zusammenbricht.

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Subtile Regimekritik

Als Die Tatarenwüste 1940 im Verlagshaus Rizzoli erscheint, steht Mussolinis Italien kurz vor dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Der Krieg ist ein Wendepunkt, eine Flucht des Regimes nach vorne, denn die breite Unterstützung der Massen wie der Eliten für den Faschismus schwindet allmählich. Die Rezensenten des Romans sind begeistert, man liest das Buch auch als subtile Kritik am Regime. Der Autor selbst ist inzwischen als Kriegskorrespondent zur Marine abgestellt worden, und wie im Roman besteht der Militäralltag auch hier in endlosem Warten:

„Ich frage mich: Was tue ich hier bloß? Ab und zu Artikel, Ideen nur wenige, und trotzdem riskiere ich womöglich meine Haut. Mit welchem Gewinn? […] Solange ich beim Corriere bleibe, werde ich durch die Welt tingeln und dummes Zeug schreiben müssen und damit die beste Zeit meines Lebens verplempern.“

Buzzati übersteht das Kriegsende halbwegs unbeschadet. Für seine Zeitung berichtet er in den letzten Kriegstagen über die Einnahme Mailands durch die Partisanen. Nach einem kurzen Berufsverbot arbeitet er auch nach ’45 wieder für den Corriere, dessen Profil er in der Nachkriegszeit entscheidend mitprägt. Als Korrespondent reist Buzzati durch die ganze Welt, berichtet etwa über die Kulturszene Japans und New Yorks. Für den Komponisten Luciano Chailly verfasst er Opernlibretti, für Federico Fellini Drehbücher, er malt, entwirft Bühnenbilder und widmet sich ausgiebig dem Bergsteigen. Die Tatarenwüste wird rasch zu einem Klassiker der italiensichen Literatur, inzwischen zählt der Roman zu den bedeutendsten europäischen Texten des 20. Jahrhunderts. Doch so recht glücklich wird Buzzeti trotzdem nicht mehr, ein weiterer literarischer Wurf will ihm nicht gelingen. Nach seinem durch eine Krebserkrankung verursachten Tod 1972 erinnert man sich an ihn als den Verfasser einiger bemerkenswerter Reportagen und des einen, großen Romans seines Lebens.

Dino Buzzati: „Die Tatarenwüste“. Aus dem Italienischen von Percy Eckstein und Wendla Lipsius, bearbeitet von Julika Brandestini. Mit einem Nachwort von Maike Albath. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 256 Seiten, gebunden. ISBN: 978-3-847-72027-0.

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