Patriarchy is a Death Cult

© Ullstein Buchverlage

Es gibt in diesem Jahr gleich doppelten Anlass, an Marlen Haushofer zu erinnern: Ihr Geburtstag jährt sich zum hundertsten, ihr Todestag zum fünfzigsten Mal. Neben den großen Romanen dieser außergewöhnlichen Schriftstellerin sollte man auch unbedingt ihre kürzere Prosa lesen. Die Novelle Wir töten Stella ist ein flirrendes kleines Meisterwerk, das die patriarchalisch-bürgerliche Geschlechterordnung der Nachkriegszeit schonungslos offenlegt.

Marlen Haushofer (1920-1970) gilt heute als eine der bekanntesten und bedeutendsten österreichischen Nachkriegsautorinnen. Das war nicht immer so. Zu Lebzeiten konnte sich die Schriftstellerin nur schwer durchsetzen, ihre literarischen Texte wurden zwar bei Erscheinen regelmäßig positiv besprochen, doch eine Etablierung und wirkliche Anerkennung durch den Literaturbetrieb (der eben auch das ist, ein Betrieb) blieb der als „schreibende Hausfrau“ diffamierten Schriftstellerin verwehrt. Das hat sicher mit ihren Lebensumständen zu tun: Als bürgerliche Gattin eines recht wohlhabenden Zahnarztes und Mutter zweier Kinder erfüllte sie nach außen eine weibliches Rollenbild, das im stockkonservativen, postfaschistischen Nachkriegsösterreich mit einer gleichzeitigen Karriere als Literatin unvereinbar schien.

Kein Interesse am Sprachspiel

Doch es gibt vielleicht noch einen anderen Grund, warum Haushofers Texte zu ihren Lebzeiten nicht sehr erfolgreich waren und erst spät in den Kanon aufgenommen wurden: Anders als das Gros der österreichischen Literatur nach ’45 interessierte sich Haushofer nicht im Geringsten für Sprachspiele- und experimente. Ihre Prosa ist, anders als die von Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger, Thomas Bernhard oder Peter Handke, zunächst einmal konventionell, realistisch, nüchtern und weitgehend schmucklos. Hier werden weder Syntax noch Semantik dekonstruiert; die extravagante Metapher oder eine disruptive Symbolik sind ihre Sache nicht. Was Haushofers Literatur stattdessen auszeichnet, ist ein hochpräziser, spezifisch weiblicher Blick auf ein bestimmtes Milieu – das Nachkriegsbürgertum – und seine patriarchalischen Strukturen, die sie sorgsam freilegt wie kaum eine andere deutschsprachige Autorin ihrer Zeit.

Als ihr Opus magnum gilt heute der Roman Die Wand (1963), der ein apokalyptisches Endzeitszenario beschreibt, in dem sich die namenlose Protagonistin quasi über Nacht durch eine gläserne, unüberwindliche Wand von ihrer Umwelt getrennt und als scheinbar einzige Überlebende einer unbekannten Katastrophe wiederfindet. Mit diesem Buch begann in den 1980ern Haushofers posthumer Ruhm, der sich in den letzten Jahren noch einmal deutlich gesteigert hat. In ganz Europa und darüber hinaus wird heute vor allem dieser Text der Autorin gelesen und geliebt; eine gelungene Verfilmung (2012, mit Martina Gedeck, Regie: Julian Pölsler) hat zur Popularisierung noch einmal beigetragen. Es scheint auch, als käme Haushofer die sprachliche Unaufdringlichkeit, die ihr zu Lebzeiten die ganz große Anerkennung vereitelt haben mag, heute zugute. All ihre Texte sind viel leichter zugänglich als etwa die Prosa Bachmanns oder Elfriede Jelineks.

Eine Kindheit in den Bergen

So gut Die Wand auch heute noch ist – es handelt sich ganz zweifellos um einen der wichtigsten deutschsprachigen Erzähltexte des letzten Jahrhunderts -, mindestens ebenso großes Interesse hat ihre kürzere Prosa verdient. Das gilt für den Kurzgeschichtenband Schreckliche Treue (1968), vor allem aber für ihre zwei längeren Novellen aus den 50er Jahren, Das fünfte Jahr (1952) und Wir töten Stella (1958).

Die frühere Erzählung, Haushofers erste Buchpublikation, schildert eine Kindheit in den Bergen und lässt den Einfluss Adalbert Stifters erkennen. Die fünfjährige Marili lebt bei ihren Großeltern und deren beiden Bediensteten auf einem einsamen Bauernhof, ihre Mutter und deren Brüder sind verstorben (der Vater ist schlicht abwesend). In einer wunderbar atmosphärischen Prosa beschreibt der Text aus kindlicher Perspektive den Wechsel der Jahreszeiten, das Beglückende, aber auch Erschreckende und Grausame der Natur und zeichnet nicht zuletzt ein wunderbar liebevolles Porträt der beiden alten Leute, vor allem der Großmutter, die sich hingebungsvoll um das Kind kümmert. Doch auch schon in diesem Text wird aufmerksam die tradierte Geschlechter- und Familienhierarchie registriert. Der Großvater ist das unumschränkte Oberhaupt, der „Herr“, dem sich alle anderen, Knecht und Magd, aber auch Ehefrau und Enkelin, nahezu bedingungslos unterzuordnen haben.

Familie als Hölle auf Erden

Ganz anders dagegen die Novelle Wir töten Stella, die alle Qualitäten dieser Schriftstellerin gleichsam kondensiert versammelt. Erzählerin des in den 50er Jahren spielenden Textes ist die Hausfrau Anna, die im Rückblick berichtet, wie Stella, die Tochter ihrer Freundin Luise, in ihrer Obhut zu Tode gekommen ist. Annas Ehemann Richard ist Rechtsanwalt, ein Ladykiller und Playboy. Seine zahlreichen Affären sind der Ehefrau längst kein Geheimnis mehr. Anna hat Richard gegenüber äußerst ambivalente Gefühle. Einerseits widern sie seine Lebensgier und Verantwortungslosigkeit an, andererseits sehnt sie sich immer noch nach seiner Geborgenheit verheißenden Präsenz. Das Paar hat zwei Kinder, Annette ist acht Jahre alt und ähnelt in ihrem unverzagten Wesen ganz dem Vater. Der fünfzehnjährige Wolfgang dagegen, ein schüchterner und nachdenklicher Junge, ist Annas Liebling, sie hat ihn als kleines Kind durch die Bombennächte gerettet. Das Verhältnis der Mutter zum Sohn ist von enormer wechselseitiger Zuneigung geprägt und weist fast schon inzestuöse Züge auf.

Nach außen hin ist diese Familie perfekt, doch für Anna kommt sie in vielem einer Hölle auf Erden gleich. Sie ist als Hausfrau ökonomisch ganz und gar abhängig von ihrem Mann, eine Trennung würde nicht nur einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Absturz mit sich bringen, sondern  Richard würde sicherlich auch versuchen, so vermutet Anna, ihr Wolfgang zu nehmen. Als Annas Freundin Luise sie bittet, ihre neunzehnjährige Tochter Stella für einige Monate bei sich aufzunehmen (Stella besucht in dieser Zeit eine Berufsschule), willigt sie widerstrebend ein. Eigentlich hasst Anna Luise und unterstellt ihr, die Tochter um das Erbe ihres verstorbenen Vaters, eines Apothekers, bringen zu wollen, um dann in finanzieller Sorglosigkeit einen jugendlichen Liebhaber heiraten zu können. Anfangs empfinden die Familienmitglieder Stellas Gegenwart im Haus eher als Störung. Dann aber nimmt sich Anna ihrer an und kauft ihr anstelle ihrer „scheußlichen braunen Kleider“ attraktive Kleidungsstücke, die nun auch Richards Aufmerksamkeit und Jagdinstinkt wecken. Er beginnt mit Stella heimlich eine Affäre (die vielleicht auch eher eine Vergewaltigung ist), schwängert sie, zwingt sie zu einer Abtreibung und lässt sie dann fallen. Daraufhin begeht Stella Selbstmord, indem sie vor einen Lastwagen läuft. Erst jetzt begreift Anna, was zwischen ihrem Mann und dem Mädchen vorgefallen ist.

Keine Möglichkeit, dem System zu entkommen

Mit einer sezierenden Präzision und in kraftvoller, gleichwohl poetischer Sprache legt Haushofer hier die alltäglichen Funktionsprinzipien der zutiefst patriarchal-bürgerlichen Familienordnung der 50er Jahre bloß. Gewiss, der Mann ist der Täter – sein Handeln ist unmittelbar dafür verantwortlich, dass Stella sich das Leben nimmt. Doch darüber hinaus zeigt der Text, wie sehr sich auch Anna (und mittelbarer auch Stellas Mutter Luise) in Schuld verstrickt haben. Gibt es wirklich kein Außerhalb, keinen Raum des Anderen, keine Möglichkeit, dem System zu entkommen? Zumindest hat Anna nicht die Kraft und vielleicht auch nicht den Willen, einen radikalen Schnitt zu ziehen und den Sprung auf die eigenen Füße zu wagen. Stattdessen gibt sie sich dem Trugbild einer einst heilen Vergangenheit hin, die irgendwann zerbrochen sein müsse:

„Einmal war alles gut und in Ordnung, und dann hat jemand die Fäden verwirrt. Ich kann den Anfang nicht mehr finden , und das Gespinst unter meinen Händen verwirrt sich von Tag zu Tag mehr, es wächst und wuchert, und eines Tages wird es mich begraben und ersticken.“

Aber hier war noch nie alles gut. Diese Familie ist von Grund auf dysfunktional, oder besser: sie funktioniert nur nach alleroberflächlichsten Ordnungsprinzipien. Ein wirkliches Verhältnis zueinander existiert entweder überhaupt nicht oder lediglich, wie im Fall Anna-Wolfgang, als übersteigerte, ungesund enge Bindung, die allerdings auch die Katastrophe letztlich nicht überleben wird. Am Ende gibt es keinen Auf- und Ausbruch, außer für Wolfgang, der in ein Internat flieht, und für Richard, dessen unbekümmertes, hedonistisches Wesen die grausam-kalte Kehrseite seiner selbst einfach verdrängen oder verbergen kann. Seiner ebenso genießerischen wie vernichtenden Brutalität hat die reflektierte und gleichsam eingemauerte Anna nichts entgegenzusetzen.

Marlen Haushofer hat in diesem faszinierend komplexen und gleichwohl bedrückenden Psychogramm eigene Erfahrungen aus ihrer unglücklichen Ehe verarbeitet. Darüber hinaus kann man den Text – eine Parallele übrigens zu Yasushi Inoues Erzählung Das Jagdgewehr – auch als zeitgeschichtlichen Kommentar zur Nachkriegszeit lesen, der das Verdrängen und Verschweigen einer monströsen Schuld nach 1945 thematisiert, das unbekümmerte Weiter-so der Täter anprangert und mit dem Wegschauen und Ausblenden der eigenen Verstrickung einer schweigenden Mehrheit hart ins Gericht geht.

Marlen Haushofer: „Wir töten Stella / Das fünfte Jahr.“ Novellen. Ullstein Buchverlage, Berlin 2017. 112 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-5482-9139-0.

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