Dem Vergessen trotzen

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In ihrem autobiographisch gefärbten Roman Untertauchen erzählt die russische Schriftstellerin Lydia Tschukowskaja (1907-1996) vom Terror der Stalinzeit aus einer dezidiert weiblichen Perspektive. Die Übersetzerin Nina verbringt im Winter 1949 einige Wochen in einem Sanatorium für Künstler. Dort stellt sie sich ihrer Vergangenheit, dem spurlosen Verschwinden ihres Mannes Aljoscha im Gulag und der Frage, wie man in der Diktatur überleben kann.

Es ist eine unwirkliche Welt, in die Nina Sergejewna, eine Übersetzerin und die Erzählerin dieses Romans, eintritt: Ein Sanatorium für Autoren, für Schriftstellerinnen und Journalisten, idyllisch gelegen in einem tief verschneiten Wald, unfern eines kleinen Dorfes. Alles scheint ruhig und friedlich. Aber das ist es nicht. Die Sorgen sind mitgereist, die jahrelange Ungewissheit und Angst um Ninas Mann Aljoscha, der 1937, auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors, verhaftet und zu zehn Jahren Gulag verurteilt worden ist. Ohne Erlaubnis, Briefe zu schreiben oder zu empfangen. Ohne die Möglichkeit, Kontakt zu Frau und Tochter zu halten. Mittlerweile ist die Zeit verstrichen, der Krieg gegen Nazi-Deutschland inzwischen vorüber. Es ist Februar 1949, aber Aljoscha ist nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Jetzt ist Nina hier, an diesem Ort der Erholung. Für ein paar Wochen kann sie ihrer Arbeit ungestört nachgehen, bevor sie zu ihrer Tochter zurückkehrt.

Heimliches Tagebuch

„Endlich werde ich in allein in einem Zimmer wohnen, zum ersten Mal seit dem Krieg. Wie zu Hause, in Leningrad. An einem Schreibtisch sitzen, den ich nicht dreimal am Tag in einen Esstisch verwandeln muss. In der Stille arbeiten. Und der Gedanke oder der Einfall werden durch das Gerede in der Küche nicht überfahren, nicht verstümmelt … Ich hielt die Hand an das blaue Dampfheizungsrohr: heiß.“

Doch wirklich zur Ruhe und zum Arbeiten kommt die Erzählerin hier erst einmal nicht. Ihre Gedanken kreisen um anderes, sie denkt unentwegt an ihren Mann, fragt sich, ob er noch lebt oder längst getötet worden ist. Wird sie je wieder von ihm hören oder erfahren, was mit ihm geschehen ist? Hoffnung und Hoffnungslosigkeit wechseln sich ab. An den Abenden, die sie zurückgezogen von den anderen Patienten verbringt, versinkt sie ganz in sich selbst: „Je tiefer ich untergetaucht bin, desto länger und schmerzhafter ist diese Tortur“. Untertauchen – das ist die Metapher, die Nina für sich findet und die dem Roman den Titel gibt. Untertauchen bedeutet, der Oberfläche, dem Geschwätz, das in Wahrheit so vieles verschweigt, dem Alltag zu entfliehen. Sich den eigenen Gedanken und Gefühlen zuwenden, der Schmerzen bewusst zu werden, nicht zu vergessen. Untertauchen bedeutet aber auch, sich in der Literatur zu versenken, die die Herrschenden verdammen und ausmerzen wollen.

Heimlich führt sie ein Tagebuch. Sie erzählt darin von ihren Reflexionen, den Ängsten und dem, was sie erlebt. Von den Menschen, denen sie hier begegnet, von der Natur, deren Stille und Schönheit sie erst schätzen lernen muss auf ihren einsamen Spaziergängen durch den verschneiten Winterwald. Und vom Trost und Halt, den ihr das laute Rezitieren von Gedichten in der menschenleeren Natur gibt. Ganz besonders liebt Nina Boris Pasternak.

Weibliche Perspektive auf die Stalinära

Lydia Tschukowskajas Roman Untertauchen, der zwischen 1949 und 1957 entstanden ist, schildert die Schrecken der Stalinära aus einer dezidiert weiblichen Perspektive, die das Komplementär zu den Lagertexten von Solschenizyn oder Warlam Schalamow darstellt. Der Roman ist stark autobiographisch gefärbt. Wie ihre Protagonistin hat die Autorin Tschukowskaja, die als Schriftstellerin, Kritikerin und Herausgeberin (unter anderem der Werke ihrer Freundin Anna Achmatowa) schon früh selbst in Konflikt mit der herrschenden bolschewistischen Klasse gekommen war, das Verschwinden ihres Mannes erleben müssen. Matwei Bronstein, ein angesehener Physiker aus jüdischer Familie, wurde auf dem Höhepunkt des Terrors im Jahr 1937 unter einem Vorwand verhaftet, zur zehnjährigen Lagerhaft verurteilt, dann aber wenig später vom Geheimdienst exekutiert. Von seinem Tod erfuhr Lydia Tschukowskaja erst Jahre später.

Der Roman – von der großen Swetlana Geier gewohnt exzellent ins Deutsche übersetzt –  ist in Tagebuchform verfasst. Die Geschichte Ninas ist aber zugleich mehr als ein privates Bekenntnis. Immer wieder betont die Erzählerin, dass sie nicht für sich allein schreibt, sondern explizit für Gleichgesinnte, für andere Opfer staatlicher Gewalt: „Ich schreibe ein Buch, um Brüder zu finden – und sei es dort, in der unbekannten Ferne“.

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Plötzlich kippt alles

In der Heilanstalt begegnet die Nina anderen Patienten, die zunächst nicht als jene „Brüder“ erscheinen, sondern eher ihr Misstrauen wecken. Sie alle scheinen vergessen und verdrängen zu wollen, was um sie herum geschieht. Da ist etwa der Schriftsteller Bilibin, der ihr als ein an das System angepasster Angeber und Gernegroß anmutet. Sie versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, doch irgendwann begleitet er sie auf einen Spaziergang durch den Winterwald. Und plötzlich kippt alles: Nina erfährt wie beiläufig, dass Bilibin eine Zeit lang im gleichen Gulag wie ihr Mann Aljoscha gewesen ist. Er erzählt von den drakonischen Strafen dort, von Folter, Hunger, Sterben, Kannibalismus.

Mit einem Mal haben die beiden eine Beziehung zueinander gefunden. Für die Erzählerin stellt Bilibin nun eine Verbindung zum Schicksal ihres verschollenen Mannes dar. Und sie versteht, dass sein joviales, glattes Auftreten in Wahrheit eine Maske ist, ein Schutz, der sein wirkliches Ich nach außen abschirmt: „‚Und das ist alles nicht wahr, seine wirkliche Stimme kenne nur ich‘, denke ich und drücke mein Gesicht in das Kissen.“

Abrechnung mit Stalins Antisemitismus

Unweigerlich fühlt man sich beim Lesen von Untertauchen an den Zauberberg erinnert. Wie Thomas Mann nutzt auch Tschukowskaja die Isolation und Abgeschlossenheit des Sanatoriums und ein Tableau kauziger, sehr unterschiedlicher Figuren, um ein Porträt von Zeit und Gesellschaft zu zeichnen – in kleinerem Maßstab, versteht sich, weniger ausgreifend und stärker verdichtet.

Das macht den Roman bis heute so lesbar und faszinierend. Es handelt sich eben nicht nur um die Klage einer an der Ungewissheit verzweifelnden Ehefrau, sondern zugleich um einen eminent politischen Roman, der die Ideologie und Kulturpolitik der Sowjetunion unter Stalin in aller Schärfe anklagt. Immer wieder dringen von außen Berichte über neue Säuberungen des Kultur- und Pressewesens in das Sanatorium. Auch die antisemitischen Hetzkampagnen, vom Staat bewusst gesteuert, treten im Verlauf der Handlung immer offener zutage, was die Erzählerin mit Entsetzen registriert:

„‚Lesen Sie denn keine Zeitungen?‘, flüsterte Ljudmila Pawlowna. ‚Da ist doch wieder von einer Verschwörung die Rede, die Juden haben wieder eine Verschwörung angezettelt, man hat irgendwelche Kosmopoliten entlarvt. […]

Das war nicht mehr jene elementare Antisemitismus, der während des Krieges aus dem faschistischen Deutschland auf uns übergegriffen hat […]. Das war nicht elementare Raserei, die sich in der Vergangenheit der undifferenzierten Menschheit bemächtigte, sondern bewusste, gesteuerte, planmäßig geförderte Wahnvorstellungen, Wahnvorstellungen mit im Voraus wohlüberlegter Absicht. Ich konnte nur hilflos fragen: ‚Aber was haben die Juden denn damit zu tun?'“

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Ausschluss aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband

Am Ende kehrt Nina nach Moskau zu ihrer Tochter zurück. Der Alltag hat sie wieder, doch die Erzählerin ist eine andere geworden. Sie hat den Gedanken akzeptiert, dass ihr Mann längst ermordet worden ist. Und sie versteht, warum ein Mensch wie Bilibin das Unrecht, das er erlitten hat, nach außen verleugnet. Um weiterexistieren zu können, ist auch er untergetaucht und hat sich ein Alter Ego zugelegt, das seine Narben vor der Welt verbirgt.

Lydia Tschukowskajas Roman konnte in der Sowjetunion selbstverständlich nicht erscheinen, auch nicht nach Stalins Tod und der Abkehr der sowjetischen Führung von seiner brutalen Politik. Als das Buch 1972 in den USA herausgebracht wird, hat das für die Autorin schwerwiegende Konsequenzen. Sie wird aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und damit zum Schweigen gebracht. In ihrer Rede vor dem Verband, die im Februar 1974 in einer russischen Exilzeitschrift in Paris abgedruckt wird, prangert Lydia Tschukowskaja mutig die Bigotterie der Diktatur an und zeigt sich fest davon überzeugt, dass das Urteil der Parteifunktionäre vor der Literaturgeschichte keinen Bestand haben werde. Sie sollte recht behalten.

„Der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband macht die Verurteilung zur Nichtexistenz zur vollendeten Tatsache. Es hat mich nie gegeben, und es gibt mich nicht. […]
Wird es mich geben? Bei solchen Maßnahmen haben sie immer vergessen, und Sie vergessen es auch heute, dass nur die Gegenwart und zum Teil die Vergangenheit in Ihrer Macht steht. Es gibt noch eine Instanz, die über Vergangenheit und Zukunft entscheiden: die Literaturgeschichte. […]
Die Literaturgeschichte – und nicht Sie – wird auch heute entscheiden, wer ein Schriftsteller und wer ein Usurpator ist.
Was werden die Ausgeschlossenen tun? Bücher schreiben. Sogar Gefangene haben Bücher geschrieben und schreiben Bücher. Und was werden Sie schreiben? Resolutionen.
Schreiben Sie.“

Lydia Tschukowskaja: „Untertauchen“. Roman. Aus dem Russischen von Swetlana Geier und mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Dörlemann Verlag, Zürich 2015. Hardcover, 256 Seiten. ISBN 978-3-038-20013-0.

2 Gedanken zu „Dem Vergessen trotzen“

  1. Hallo Julian,

    folge dir ja schon eine Weile auf Twitter (@reklamekasper) habe aber gerade erst deinen interessanten Blog entdeckt und stoße schon auf ein Buch, das mich interessiert. Werde mich jetzt regelmäßig hier umsehen.

    Viele Grüße aus Tübingen
    Norbert

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