Den Frühling hören – von Sibelius bis Rodgers & Hart

Der Frühling lässt in diesem Jahr ziemlich auf sich warten. Das Wetter mag nicht so recht mitspielen und die Pandemie wütet nach wie vor, auch wenn der Lichtstreif am Horizont mit jedem Tag heller wird.

Aber wenn es nicht warm und sonnig werden will und man an weitgehend die Wohnung gefesselt bleibt, dann muss man sich den Frühling eben anders beschaffen. Warum also nicht hören? Jaja, das hier ist eigentlich ein Literaturblog, aber Musik hilft mir gerade in schwierigen Zeiten oftmals besser als Literatur. Es folgt also eine kleine kommentierte Auswahl an klassischer Musik zum Thema Frühling. Weil Vivaldis Primavera oder Schumanns Frühlingssymphonie ja ziemlich bekannt sein dürften, habe ich fast ausschließlich etwas unbekanntere Stücke aus dem 20. Jahrhundert ausgesucht. Wie unterschiedlich diese Jahreszeit doch klingen kann…

Los geht es mit Jean Sibelius, dem etwas schwermütigen Finnen, und seiner kurzen symphonischen Dichtung Vårsång (Frühlingslied) aus dem Jahr 1894. Der Frühling kommt hier nicht als exaltiertes Fest des Lebens und Neuanfangs daher, sondern sehr spätromantisch-sehnsuchtsvoll. Das Stück endet dennoch optimistisch mit Glockengeläut und in kräftigem F-Dur.

Reisen wir weiter nach Frankreich. Von Finnland ein ziemlich weiter Weg. Auch musikalisch liegen zwischen Sibelius und Claude Debussy Welten. Rondes de printemps, auf Deutsch: Frühlingsreigen, ist das dritte der Images pour orchestre, die mit zum Spannendsten und Modernsten gehören, was dieser Komponist geschrieben hat. Debussy verarbeitet in diesem zwischen 1905 und 1909 verfassten Stück zwei französische Volkslieder. Das Etikett „Impressionismus“ mochte Debussy übrigens gar nicht, aber wenn man hört, wie subtil er mit leuchtenden Klangfarben Stimmungen zu erzeugen weiß, versteht man schon, warum diese Musik immer wieder mit der Malerei Monets, Renoirs oder Pissarros verglichen wird.

Der musikalische Frühling klang bis jetzt sehr harmonisch, ausgeglichen, sanft. Wie wäre es mit ein bisschen Archaik? Die zuckenden Rhythmen von Igor Stravinskys Ballettmusik Le Sacre du Printemps entsetzten bei der Uraufführung 1913 im Théâtre des Champs-Élysées in Paris das Publikum über die Maßen. Es gab Gelächter, Schreie, Tumult; beinahe musste die Aufführung abgebrochen werden. Man kann diese Reaktion im Grunde bis heute nachvollziehen. Stravinskys Stück, das die Opferung eines jungen Mädchens im heidnischen Russland schildert, ist eines der spannendsten, wildesten und wegweisendsten Werke der klassischen Musik im 20. Jahrhundert.

Nach diesem dissonanten Parforceritt des Riesenorchesters darf es ruhig wieder friedlicher werden. Arnold Bax hatte bei weitem nicht das Temperament seines russischen Kollegen und auch keinen solchen Ehrgeiz zum Avantgardismus. Seine Spring Fire Symphony wurde zwar im gleichen Jahr uraufgeführt wie Sacre, ist aber musikalisch deutlich konventioneller. Schön ist klangliche Darstellung eines Frühlingstages in einem verzauberten Wald aber doch. Der erste Satz schildert, so der Komponist, „die noch unsichere und nachdenkliche Stunde vor Sonnenaufgang. Es hat geregnet. Die Zweige tropfen sanft, und ein feuchter, zarter Duft steigt von der Erde auf.“ Dann endlich bricht das Tageslicht durch, die Sonne steigt zum Himmel, der Tag triumphiert. Eine bunte Schar mythischer Waldgeister begeht ein ausgelassenes Fest: Nymphen, Faune, Mänaden und Satyrn feiern ausgelassen das Leben und und die freie Liebe.

Ganz anders wiederum klingt der Frühling in der wunderschönen Rhapsodie Enter Spring des Briten Frank Bridge von 1927. Obwohl fast gleichaltrig mit Arnold Bax, ist Bridge der viel modernere Komponist. Ein bisschen erinnert seine Klangsinnlichkeit an Debussy, aber hier geht es doch dissonanter zu. Frisch und strahlend hält der Frühling in seiner ganzen Formen- und Farbenvielfalt Einzug.

Auch Benjamin Britten, der dritte Brite in dieser Zusammenstellung und Schüler von Frank Bridge, hat sich musikalisch mit dem Frühling beschäftigt. Die 1949 uraufgeführte Spring Symphony erinnert eher an eine Kantate für Gesangssolisten, Chor und Orchester. Britten vertont hier auf höchst abwechslungsreiche Weise zahlreiche Texte der englischen Literatur von Edmund Spenser bis W. H. Auden. Mystisch beginnt das Stück mit einem beschwörenden, vom Chor vorgetragenen Hymnus an die Sonne: „Shine out, fair Sun, with all your heat, / Show all your thousand-coloured light!“

Noch ein kleiner Abstecher nach Russland: In Sergej Prokofiews Ballettmusik Cinderella muss das arme Aschenputtel (russisch: Soluschka) allein zu Hause sitzen, während sich die bösen Stiefschwestern auf dem festlichen Ball vergnügen. Doch Rettung naht: Gleich vier Feen, die die verschiedenen Jahreszeiten symbolisieren, tauchen nacheinander auf und verwandeln das zunächst unscheinbare Mädchen in eine wunderschöne Ballprinzessin. Den Anfang macht die übermütige Fee des Frühlings. Kaum vorstellbar, dass Prokofiev diese durch und durch lebensfrohe Musik während des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat; die Uraufführung fand 1945 am Bolshoi-Theater statt.

Zum Ausklang noch einmal etwas ganz anderes, nämlich einen der schönsten Broadway-Songs, die ich kenne: Ella Fitzgerald singt Spring is Here aus dem Musical I Married an Angel (1938) von Richard Rodgers. Der traurige Text von Lorenz Hart passt ziemlich gut auf diesen zweiten einsamen Covid-Frühling, der hoffentlich der letzte sein wird:

Spring is here! Why doesn’t my heart go dancing?
Spring is here! Why isn’t the waltz entrancing?
No desire, no ambition leads me
Maybe it’s because nobody needs me
Spring is here! Why doesn’t the breeze delight me?

 

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