Sterben und Weiterleben

© Suhrkamp Verlag

Wenn sich Literatur mit kontroversen Gegenwartsdiskursen auseinandersetzt, erschlägt der Inhalt oft die Form. Aber es gibt wohltuende Ausnahmen: Die Französin Maylis de Kerangal hat einen Roman geschrieben, der auf kunstvolle Weise ein heikles Thema unserer Gegenwart verhandelt. Die Lebenden reparieren erzählt multiperspektivisch und in klassizistisch geschliffener Prosa von den Umständen der modernen Transplantationsmedizin.

Ich bin immer etwas skeptisch, wenn Romane in erster Linie Themen verhandeln, vor allem solche, die vieldiskutiert oder besonders umstritten sind. Nicht, weil ich der Ansicht wäre, dass sich Kunst aus dem, was man Diskurs nennt, ganz heraushalten und auf einen Ästhetizismus zurückziehen sollte (wobei ein bisschen mehr L’art pour l’art gegenwärtig nicht schaden würde). Aber oftmals erschlägt in diesen Romanen das überwölbende, vermeintlich oder tatsächlich wichtige Thema alles andere: die Sprache, die Struktur, die Figurenzeichnung – eben alles, was nicht nur beiläufig den künstlerischen Gehalt eines literarischen Kunstwerkes ausmacht. Der Text wird dann in der Hauptsache als Diskursbeitrag wahrgenommen, als erzählender Essay oder, schlimmer noch, politische Predigt, der man das Kostüm des Romans sorglos übergeworfen hat. Aber wen kümmert schon die Frage nach dem Wie, wenn die sogenannte Relevanz doch alles ist, was zählt?

Multiperspektivisches Erzählen

Dennoch ist dieser vermeintliche Gegensatz auflösbar. Es gibt durchaus Texte, die sich einem kontroversen Thema verschreiben, dabei jedoch nie den Anspruch aufgeben, literarisches Kunstwerk zu sein; die nichts zu sagen, wohl aber zu zeigen haben. Der Roman Die Lebenden reparieren (2014, dt. 2015) der französischen Autorin Maylis de Kerangal (*1967) erzählt die Geschichte einer Organspende: Der siebzehnjährige Simon Limbres und seine Freunde erleiden nach einem frühmorgendlichen Surfausflug einen schweren Autounfall. Simon ist als einziger nicht angeschnallt und wird so schwer am Kopf verletzt, dass er in der Klinik für hirntot erklärt werden muss.

Erzählt werden die nun folgenden Ereignisse aus der Sicht der verschiedenenen Beteiligten. Die Eltern Simons, Marianne und Sean, die in Trennung leben und noch eine weitere, jüngere Tochter haben, können sich mit dem Tod ihres Kindes zunächst kaum abfinden und müssen sich zu einer Zustimmung zur Organentnahme erst durchringen. Der behandelnde Arzt dagegen versucht den Spagat, den Eltern schonend die hoffnungslose Situation zu erklären und sie dennoch rasch zu einer Entscheidung zu bewegen.

Gezeigt wird Juliette, die Freundin Simons, die von ungläubigem Entsetzen überwältigt wird; dann die Krankenschwester, die den sterbenden Simon pflegt und gleichzeitig in Gedanken bei ihren privaten Liebesproblemen ist; außerdem die verschiedenen Ärzteteams, die für die Entnahme und die Verpflanzung der Organe zuständig sind. Schließlich begegnet den Lesenden die Empfängerin des Herzens von Simon, eine schwerkranke Frau mittleren Alters namens Claire, deren lebensrettende Operation bereits kurz bevorstand und dann im letzten Moment abgesagt worden ist. Sie hofft und bangt nun erneut, verspürt aber auch Unbehagen angesichts der Umstände ihrer möglichen Rettung.

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Überformender Stil

De Kerangals multiperspektivische, präsentische Erzählweise hat etwas Dokumentarisches, so gleichberechtigt stehen die verschiedenen Stimmen, Sichtweisen und Emotionen nebeneinander. Eine eingelegte Moral, eine grundsätzliche Bewertung der Organspende-Praxis sucht man glücklicherweise vergeblich. Alles bleibt im Konkreten, ethische Reflexionen immer an das situative Empfinden und Betrachten der einzelnen Figuren gebunden. Was darüber hinausgeht, wie die individuellen Perspektiven und Interessen zusammenzuführen sind, bleibt den Lesenden überlassen.

Doch der Text ist keine Montage, er ist strukturiert und geordnet durch einen ebenso formenden wie überformenden, klassizistisch anmutenden Erzählstil. De Kerangals Sprache in diesem Roman, wunderbar ins Deutsche übertragen von Andrea Springler, schimmert farbig und brillant. Die langen Satzperioden sind geschliffen und jederzeit derart sorgfältig ausbalanciert, dass der Erzählfluss nie ins Stocken gerät.

„Was wird aus der Liebe zu Juliette, wenn Simons Herz in einem unbekannten Körper wieder zu schlagen beginnt, was wird aus all dem, was dieses Herz erfüllte, aus seinen Affekten, die sich vom ersten Tag an allmählich in Schichten abgelagert oder mit einem Begeisterungsausbruch oder einem Wutanfall hier und da eingebrannt haben, aus seinen freundschaftlichen Gefühlen und seinen Aversionen, seinem Groll, seiner Heftigkeit, seinen ernsten und zarten Neigungen?“

Präzise Darstellung der medizinischen Abläufe

Die sprachliche Sensibilität, mit der de Kerangal das Innenleben ihrer Figuren ausleuchtet, wird kontrastiert durch eine enorm präzise Darstellung der medizinisch-technischen Abläufe. Wie ein fein austariertes Räderwerk greift die Arbeit der verschiedenen Ärzteteams ineinander, sobald die Eltern ihr Einverständnis zur Organspende gegeben haben. Der Roman zeigt eindrucksvoll, wie effizient und sorgfältig, aber gleichzeitig auch kalt und steril diese Maschinerie funktioniert.

Weil de Kerangal den exemplarischen Ablauf einer solchen Transplantation schildern möchte, gerät ihr die Darstellung dieses Geschehens jedoch ein wenig zu glatt und vorhersehbar. Alles läuft reibungslos, niemand macht einen Fehler, die Ärztefiguren sind Idealtypen, ausnahmslos gewissenhaft und hochkompetent. Das nimmt dem Roman hier und da etwas von jener Flexibilität des Erzählens, die gerade angesichts des strengen stilistischen Rahmens wohltuend gewesen wäre. Doch das bleibt nur ein schwacher Einwand gegenüber einem Roman, der trotz aller Schwere und Dringlichkeit seines Inhaltes nie ins Traktathafte abgleitet oder zum politisch-moralischen Lehrstück gerinnt.

Maylis de Kerangal: „Die Lebenden reparieren“. Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. Taschenbuch, 255 Seiten. ISBN 978-3-518-42478-0.

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