Auschwitz vor Gericht

© Suhrkamp Verlag

Peter Weiss‘ Theaterstück Die Ermittlung bringt den Frankfurter Auschwitzprozess auf die Bühne. In 11 Szenen, deren Dialoge nahezu wörtlich aus den Verhandlungsprotokollen montiert sind, werden die Verbrechen der Schoa und der Versuch ihrer Aufarbeitung vor Gericht dargestellt. Ein erschütterndes Dokumentardrama, das nicht nur die Verzweiflung und das Leid der Opfer zeigt, sondern auch die höhnische Ignoranz der Täter.

Es ist der vielleicht denkwürdigste Theaterabend, den Nachkriegsdeutschland bis dato erlebt hat: Fünfzehn Bühnen in der BRD und der DDR sowie die Royal Shakespeare Company London bringen am 19. Oktober 1965 gleichzeitig dasselbe Stück zur Uraufführung, Peter Weiss‘ Die Ermittlung, ein Dokumentardrama über den wenige Wochen zuvor zu Ende gegangenen 1. Frankfurter Auschwitzprozess. Das Verfahren ist ein Meilenstein in der Rechtsgeschichte der noch jungen Bundesrepublik und markiert einen erinnerungspolitischen Wendepunkt. Dass es dazu überhaupt kommen konnte, ist in erster Linie das Verdienst eines einzigen Mannes, des Hessischen Generalstaatsanwaltes (und Schoa-Überlebenden) Fritz Bauer, der gegen alle Widerstände die juristische Aufarbeitung in Gang setzt.

Auschwitz als Synonym für die Schoa

Erstmals hat ein deutsches Gericht in großem Stil über die Täter geurteilt. Damit haben sich endlich diejenigen durchgesetzt, die seit langem schon das Verschweigen und Verdrängen der Nazi-Verbrechen in der konservativen Adenauerrepublik beklagt haben. Auschwitz, der deutsche Name jenes kleinen Städtchens in Oberschlesien, steht von nun an für das System der industriellen Massenvernichtung durch den NS-Staat und wird zum Synonym für die Schoa schlechthin.

Die Resonanz auf die Uraufführungen ist groß, auch deshalb, weil die Schoa bis dato kein zentrales, ja eigentlich überhaupt kein Thema der berühmtesten deutschen Nachkriegsschriftsteller ist. Böll und Wolfgang Borchert, Walser und Koeppen, Grass, Johnson und Arno Schmidt haben sich in ihren Werken mit dem Massenmord der Nazis an den Juden literarisch nicht oder nur marginal auseinandergesetzt. Die sogenannte Kahlschlagliteratur, die mit allen Traditionen brechen und ganz neu ansetzen will, interessiert sich eher für den heimkehrenden Landser oder den ehrgeizigen (Spieß-)Bürger im Wirschaftswunderland. In Walsers Roman Ehen in Philippsburg etwa, der bald nach dem Krieg in einer deutschen Großstadt spielt, wird die Frage danach, was denn die Figuren noch vor sechs, sieben Jahren eigentlich getan haben, nie gestellt.

Durchbruch als Dramatiker

Der Schriftsteller Peter Weiss (*1916) hat anders als Böll, Grass und Co. weder im Volkssturm noch in Wehrmacht oder SS gekämpft. Die Jahre der Naziherrschaft hat er im Exil verbracht. Die Familie war zunächst nach London, später nach Südschweden geflüchtet, wo Weiss in der Fremdsprache seine ersten, allerdings weitgehend erfolglosen Gehversuche als Schriftsteller unternahm. Nach dem Krieg kehrt Weiss, der auch als bildender Künstler tätig ist, nach Deutschland zurück und findet über Umwege Einlass in den Suhrkamp-Tempel. Seine avantgardistisch-experimentellen ersten Prosabände (Der Schatten des Körpers des Kutschers, 1960; Abschied von den Eltern, 1961; Fluchtpunkt, 1962) werden beachtet und gelobt, der wirkliche Durchbruch kommt  jedoch erst 1964 mit einem Theaterstück über die Französische Revolution (Marat/Sade), das zunächst die deutschen, dann auch die britischen Bühnen und schließlich sogar den Broadway erobert.

Für Die Ermittlung wählt der Autor jedoch einen anderen Zugang und Stil. Seit wenigen Jahren erst beginnt sich in Deutschland eine neue Dramenform zu etablieren, die zwar einerseits an das politische Theater der Weimarer Republik anknüpft, andererseits aber den Anspruch, die Wirklichkeit möglichst unverfälscht auf die Bühne  zu bringen, noch einmal erheblich verschärft. Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter (1963), das die Rolle des Vatikans während der Schoa thematisiert, oder Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) über die Erfinder der Atombombe verabschieden sich radikal von der Parabolik Brechts. Stattdessen operieren sie mit authentischem Material und zeitgenössischen Themen und Konflikten.

Präzise kalkulierter Spannungsbogen

Die Form des Dokumetartheaters wählt auch Weiss. Für Die Ermittlung greift er auf Originalquellen zurück, die er zur Grundlage seines montierten Textes macht; als wichtigste Quelle dienen ihm die Berichte des F.A.Z.-Journalisten und Gerichtsreporters Bernd Naumann. Im Stück wird der Prozess nun kondensiert und intensiviert, als Beteiligte kommen ein Richter, Ankläger und Verteidiger zu Wort. Achtzehn Angeklagten stehen neun Zeugen gegenüber, wobei nur erstere mit ihren realen Namen angesprochen werden (Mulka, Kaduk, Stark, Boger, Capesius, Klehr etc.). Die auftretenden Zeugen (sieben Männer, zwei Frauen) bleiben dagegen anonym, sie repräsentieren die über 300 Überlebenden, die während des Verfahrens ausgesagt haben. Szenenanweisungen gibt es keine – mit der effektvollen Ausnahme eines gelegentlich ausbrechenden, höhnisch-diabolischen Gelächters der Angeklagten.

Weiss hat sein Material lediglich subtil gerafft und konzentriert, ansonsten werden die Aussagen und Verhöre nahezu wörtlich wiedergegeben. Allerdings sollte man sich von der demonstrativen Faktizität des Stückes nicht zu sehr täuschen lassen: Die Ermittlung ist ein sorgfältig gebauter literarischer Text mit einer klaren Struktur und einem präzise kalkulierten Spannungsbogen. Schon die Stückbezeichnung „Oratorium in 11 Gesängen“ weist über den bloßen Dokumentarcharakter hinaus. Die Szenenfolge zeichnet den Weg der Opfer von der Rampe bis zur Gaskammer nach und verweist sowohl auf die Passionsgeschichte (Kreuzwegstationen) wie auf Dantes Höllenkreise. Genau in der Mitte des Stücks werden zwei individuelle Schicksale näher beleuchtet. Der „Gesang vom Ende der Lili Tofler“ widmet sich ganz dem Leiden und Sterben eines jungen Mädchens, das im Lager beim Schmuggeln eines Briefes erwischt worden ist und eher in den Tod geht, als den Adressaten, ihren Freund, zu verraten:

Richter: Können Sie uns sagen
was in dem Brief stand

Angeklater 2: Nein

Richter: Frau Zeugin
wissen Sie was in dem Brief stand

Zeugin 5: Lili Tofler fragte in dem Brief
ob es ihnen möglich sein könnte
jemals weiterzuleben
nach den Dingen die sie hier gesehen hatten
und von denen sie wüßten
[…]

Richter: Frau Zeugin
woher stammte diese Lili Tofler

Zeugin 5: Das ist mir nicht bekannt

Richter: Wie war ihr Wesen

Zeugin 5: Jedesmal wenn ich Lili traf
und sie fragte
Wie geht es dir Lili
sagte sie
Mir geht es immer gut

Daran schließt sich der „Gesang vom Unterscharführer Stark“ an, eines besonders jungen und brutalen SS-Mannes, dessen nie abgelegte ideologische Verblendung musterhaft für das Verhalten aller Angeklagten steht:

Angeklagter 12: […] In den Führerschulen
lernten wir vor allem
alles stillschweigend entgegenzunehmen
Wenn einer noch etwas fragte
dann wurde gesagt
Was getan wird geschieht nach dem Gesetz
Da hilft es nichts
daß heute die Gesetze anders sind
Man sagte uns
Ihr habt zu lernen
ihr habt die Schulung nötiger als Brot
Herr Vorsitzender
Uns wurde ja das Denken abgenommen
Das taten ja andere für uns
(Zustimmendes Lachen der Angeklagten)

Moralischer Zeigefinger des Autors

Schaut man sich den Text genauer an, erkennt man, dass nicht nur die Angeklagten, sondern auch die (anonymen) Zeugen mit individueller Stimme sprechen. Doch eine Figur ragt in besonderer Weise heraus. Zeuge 3 redet anders als alle anderen, und tatsächlich sind die meisten seiner Äußerungen nicht den Gerichtsprotokollen entnommen, sondern Zutat des Autors. Der Figur kommt eine einordnende, kommentierende Funktion im Stück zu, die in der vierten Szene („Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“) in einem effektvollen Monolog gipfelt, der einen Zusammenhang zwischen kapitalistisch-imperialistischen Unterdrückungsmechanismen und der Leichenfabrik Auschwitz herstellt:

Zeuge 3: […] Die Ordnung die hier galt
war uns in ihrer Anlage vertraut
deshalb konnten wir uns auch noch zurechtfinden
in ihrer letzten Konsequenz
in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad
seine Herrschaft entwickeln durfte
und der Ausgebeutete
noch sein eigenes Knochenmehl liefern mußte

Man stolpert heute über diese Stelle. Auschwitz als logische Fortentwicklung der Fabriken Henry Fords, die fabrikmäßige Menschenvernichtung als letzte Stufe der industriellen Revolution – diese Thesen finden sich vielleicht noch im hintersten Winkel linksradikaler Theoriebildung. Die Antisemitismus- und Holocaustforschung hat sich davon aber längst verabschiedet. Doch auch der inneren Struktur des Stückes ist dieser erhobene moralische Zeigefinger des Autors nicht zuträglich, sprechen doch die Zeugnisse der Überlebenden wirkungsvoll genug für sich selbst.

Feststellen und Festhalten, was geschehen ist

Was also bleibt von Peter Weiss‘ Ermittlung? Von den großen Theaterbühnen ist das Stück heute weitgehend verschwunden, glücklicherweise. Man mag sich eine missglückende Inszenierung durch überambitionierte Regietheaterstars nicht ausmalen. Doch der Text lebt fort. Immer mal wieder taucht er auf den Lehrplänen der Schulen auf, es gibt szenische Lesungen zu Gedenkanlässen im öffentlichen Raum. Das ist gut und richtig, denn 76 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee ist es unabdingbar, immer wieder und immer neu an Auschwitz und die Schoa zu erinnern und das Leid der Opfer nicht zu vergessen. Nicht vergessen sollte man allerdings auch das beharrliche Leugnen und Lügen der Täter, ihr Gelächter, mit dem sie die Stimmen der Überlebenden zu übertönen suchten – nicht nur im Gerichtssaal. Während der Frankfurter Auschwitzprozesse hat sich kein einziger der ohnehin wenigen Angeklagten, derer man habhaft geworden war (oder habhaft werden wollte), seiner Schuld und Verantwortung gestellt. Lächerlich gering waren die Haftstrafen; viele Verurteilte wurden schon nach wenigen Jahren vorzeitig entlassen. Doch Peter Weiss‘ Stück zeigt, dass Gerichtsverfahren nicht nur der Rechtssprechung dienen, sondern eben auch dem Feststellen und Festhalten dessen, was wirklich geschehen ist.

Das Dokumentartheater, das zwischenzeitlich aus der Mode geraten war, erlebt heute wieder eine Renaissance. Autoren wie Milo Rau, Boris Nikitin oder Rimini Protokoll verwandeln sich die Form auf sehr unterschiedliche Weise neu an. Das ist erfreulich, denn gerade in einer von Lügen und Manipulationen geprägten Zeit bleibt es wichtig, neben dem Illusionspotential der Literatur auch ihre Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit dem realen Zeitgeschehen zu zeigen. Peter Weiss ist dafür nicht der schlechteste Lehrmeister.

Peter Weiss: „Die Ermittlung“. Oratorium in 11 Gesängen. Mit einem Kommentar von Marita Meyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005. 300 Seiten, Taschenbuch. ISBN: 978-3-518-18865-1.

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