Zerstörerischer Ausdruckswille

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Johnny Carter ist ein begnadeter und gefeierter Jazz-Saxophonist. Doch immer stärker droht die dunkle, selbstzerstörerische Seite seiner Persönlichkeit allen Glanz und Erfolg zunichte zu machen. Sein Biograph und Freund Bruno beobachtet den allmählichen Niedergang mit Schrecken, doch dann begreift er, dass die Exzesse des Musikers untrennbar mit seinem künstlerischen Ausdruckswillen verbunden sind.

Fiktionalisierte Biographien über Berühmtheiten sind immer so eine Sache. Als tatsächliche Lebensbeschreibung mag man einen solchen Text nicht lesen, schließlich hat man es hier ja ausdrücklich mit Literatur, mit Kunst und Künstlichkeit zu tun. Andererseits kann es passieren, dass sich die schon bekannte Wirklichkeit wie eine Folie über den Text legt und das Artifizielle verdeckt. Je mehr man dann im Voraus an Wissen über die Person und ihre tatsächliche Geschichte mitbringt, desto schwieriger wird es, sich beim Lesen ganz dem Spiel der Fiktion zu überlassen.

Legende zu Lebzeiten

Diese Probleme können einem auch bei der Lektüre von Julio Cortázars Der Verfolger begegnen, jener Erzählung aus dem Jahr 1958 (dt. 1978) über einen genialen Jazz-Saxophonisten namens Johnny Carter. Hinter dieser Figur verbirgt sich, wie schon die Widmung des Textes enthüllt, Charlie Parker, einer der Begründer des Bebop. Wie Parker ist auch Cortázars Figur Johnny Carter schon zu Lebzeiten eine gefeierte Legende. Sein musikalisches Genie reißt die Jazzszene mit, gleichzeitig ist Carter eine gequälte, schwankende Existenz. Seit frühester Jugend drogensüchtig gelingt es ihm nicht, außerhalb der Musik irgendwo Halt zu finden. Nicht nur sein Privatleben entgleitet ihm mehr und mehr, auch die Karriere wird immer stärker in Mitleidenschaft gezogen.

Erzählt wird Der Verfolger aus der Perspektive von Bruno, einem Pariser Musikkritiker, der Freund, Bewunderer und nicht zuletzt Biograph Carters ist. Zu Beginn der Erzählung besucht Bruno Carter und dessen Geliebte Dédée in einem billigen Pariser Hotel. Carter hat New York – und seine dort lebende Frau mitsamt der gemeinsamen Kinder – verlassen, um nach Frankreich zu gehen und in den dortigen Jazzclubs und Studios zu arbeiten. Es geht ihm schlecht, Krankheit und Drogen haben ihn gezeichnet, ständig verliert oder zerstört er sein Musikinstrument, muss Auftritte absagen oder bringt sie nur mit Mühe und äußerst unvollkommen zustande.

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Sehnsucht nach Unerreichbarem

Um Johnny Carter herum wirbelt ein Schwarm von Kollegen, Bewunderern und Bekannten, die ihm, so begreift es der Erzähler Bruno, nicht nur guttun. Da ist die Tica, die „Marquise“, eine reiche Mäzenin der Jazzszene, die Carter immer wieder mit Geld aus der Klemme hilft und gelegentlich mit ihm schläft, ihm aber auch seine Drogen besorgt. Da ist Baby Lennox, eine junge, aufstrebende Sängerin, die sich an Carter wie an Bruno heranmacht und schließlich die Freundin Dédée verdrängt. Carters Musikerkollegen interessiert dessen psychische und physische Gesundheit wenig; das Wichtigste ist immer der nächste Auftritt, die nächste Platteneinspielung. Scheitert Johnny, packt sie Entsetzen, helfen ihm die Drogen mühsam über ein Konzert hinweg, sind sie glücklich.

Doch Bruno registriert hinter der fortschreitenden Zerstörung Carters noch etwas anderes: Die wirren, bilderreichen Monologe des Musikers über die Zeit und den Tod sind nicht das sinnlose Gebrabbel eines Süchtigen, sondern Ausdruck einer tiefen Verzweiflung, einer unstillbaren Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem.

Das Scheitern gehört dazu

Nach und nach enthüllt sich Bruno die wahre Tragödie dieses Menschen: Seine Kunst, so groß, reich und vollkommen sie auch erscheinen mag, stellt immer nur einen Bruchteil dessen dar, was er ausdrücken will. Johny Carter ist kein Opfer, er vergeht nicht an seinem Ruhm oder dem Druck des permanenten Leistenmüssens. Was ihn verglühen lässt, ist sein unbedingtes Streben nach dem Absoluten.

„Ich bin mir wohl bewusst, daß Johnny für mich aufgehört hat, ein Jazzer zu sein, und daß sein musikalisches Genie gleichsam eine Fassade ist, etwas, das alle Welt verstehen und bewundern kann, doch hinter der sich anderes verbirgt, und dies andere ist das einzige, worauf es mir ankommen sollte, vielleicht weil es das einzige ist, worauf es Johnny wirklich ankommt.“

Der Erzähler begreift, dass er als Jazzkritiker hier nichts mehr ausrichten kann. Was er über den Musiker meinte sagen zu müssen, hat er in seiner Biographie über Carter gesagt, doch das ist eben nicht das Wesentliche. Indem Brunos Buch die dunkle Seite Carters vornehm verschweigt, wird es ihm nicht gerecht. Seine Abstürze, die Drogensucht, die psychischen Probleme sind Teil seiner Künstlerpersönlichkeit; das Scheitern, auch im Spiel, gehört dazu. Nicht nur da, wo er Makelloses zustande bringt, ist Carter ganz Künstler, sondern gerade auch in seinen misslungenen Auftritten, die ihn eine Grenze übertreten lassen, die für ihn unüberschreitbar bleiben muss. Auch Carter selbst hat das erkannt, wie er Bruno zu verstehen gibt:

„Mich hast du vergessen, Bruno, mich. Aber es ist nicht deine Schuld, daß du nicht hast schreiben können, was auch ich nicht imstande bin zu spielen. Wenn du etwa sagst, daß meine wahre Biographie meine Schallplatten sind, weiß ich, daß du das wirklich glaubst, und es klingt ja auch gut, aber so ist es nicht. Und wenn ich selbst nicht fähig war, so zu spielen, wie ich sollte, nämlich das zu spielen, was ich wirklich bin… dann kann man auch von dir keine Wunder verlangen, Bruno.“

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Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben

Als Johnny Carter schließlich stirbt – der Tod seiner jüngsten Tochter Bee in New York gibt ihm den Rest – steht Bruno vor der Frage, ob er sein Buch für eine neue Auflage ändern soll. Doch der Erzähler entscheidet sich dagegen, schließlich erwarte die Welt kein psychologisches Porträt eines besessenen Künstlers, sondern ein leicht verdauliches (und gut verkäufliches) Buch über Jazz. So bleibt Brunos Bild von Johnny Carter als einem genialen, nicht sehr intelligenten Musiker, der nur instinktiv und halbbewusst große Kunst zu schaffen imstande ist, dort unkorrigiert bestehen.

Man kann Julio Cortázars Verfolger auf vielerlei Art lesen, natürlich auch als Schlüsselerzählung über den Jazzmusiker Charlie Parker, eines Menschen, der sich in seinem künstlerischen Ausdruckswillen verzehrt. Zugleich ist dies ein Text über das Verhältnis von Kunst und Leben, der die Frage stellt, ob man einem Künstler gerecht wird, wenn man nur auf das Werk schaut und es nicht auch in Bezug zu Persönlichkeit und Leben setzt. Und nicht zuletzt geht es in diesem postmodernen Text darum, wie man über Kunst überhaupt schreiben kann und soll.

Denn wo der Biograph Bruno letztlich versagt hat, weil er mit seinem Buch eher materielle Eigeninteressen verfolgt, da korrigiert er sich als Erzähler dieses Textes nachträglich selbst. Wirklich nahe kommt er dem Musiker jedoch auch in seinem Bericht nicht. Johnny Carter bleibt eine rätselhafte Erscheinung, die sich in ihrem Triumph wie ihrem Scheitern permanent jeder Festlegung entzieht.

Julio Cortázar: „Der Verfolger“. Erzählung. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. Broschur, 99 Seiten. ISBN 978-3-518-38819-8.

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