Widerstand als moralische Pflicht?

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Wenn die Regierung die Moral mit Füßen tritt: H. D. Thoreau sieht das Individuum in der Pflicht, gegen staatliche Ungerechtigkeit Widerstand zu leisten. Taugen seine Thesen auch heute noch?

Wenn es um das Verhältnis des Einzelnen zu Staat und Regierung geht, konnte man im reichen, satten Westen bislang noch beide Augen zudrücken. Es schien doch alles in bester Ordnung: Wir haben freie Wahlen; in diesen Wahlen drückt sich der Wille einer Mehrheit aus; es wird eine Regierung gebildet, die diesem Mehrheitswillen entspricht und ihm gemäß die Staatsgeschäfte lenkt; nach ein paar Jahren wird dann Bilanz gezogen.

All das funktioniert wunderbar, das heißt: es funktionierte wunderbar bis vor kurzem. Dann wurde in den Vereinigten Staaten, dieser alten und doch immer jung anmutenden Demokratie ein Präsident gewählt, der alle bisherigen Erfahrungen mit präsidialer Macht über den Haufen warf.

Denn im Gegensatz zu seinen Vorgängern – unter denen große und erbärmliche Staatsmänner waren – verachtet der jetzige Amtsinhaber nicht nur die Überzeugungen seiner politischen Gegner, sondern die Grundprinzipien der amerikanischen Demokratie selbst. Nur mühsam können die Institutionen, die gemäß der Verfassung die Macht des Staatsoberhaupts kontrollieren und einhegen sollen, ihre Aufgabe erfüllen. Es knirscht gewaltig im Räderwerk der amerikanischen Republik.

Und auch in Europa bekommen gerade jene Parteien immer mehr Zulauf, die ganz offen die Werteordnung der liberalen, demokratischen Gesellschaften fundamental infrage stellen. Ein neuer Autoritarismus ist wieder denkbar und möglich geworden.

Was aber tun? Wie verhält man sich als Staatsbürger angesichts derartiger Bedrohungen? Und was, wenn das Befürchtete eintritt, wenn eine demokratisch gewählte Regierung an den Pfeilern der Demokratie selbst die Axt anlegt?

Regierungen stellen Nutzen über die Moral

Wer Antworten auf diese bedrückend aktuellen Fragen sucht, der wird bei einem der Vordenker nahezu aller gewaltfreien Bürgerbewegungen der letzten 150 Jahre fündig. In seinem Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (engl. On Civil Disobedience) aus dem Jahr 1849 setzt sich der US-amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862) mit dem Problem einer Regierung auseinander, die zwar demokratisch legitimiert ist, aber unmoralisch handelt.

Unzufrieden mit der aggressiven, kriegerischen Außenpolitik seiner Regierung, mit der unmenschlichen Sklaverei und der sukzessiven Ausrottung der Ureinwohner Nordamerikas, sieht Thoreau Widerstand gegen den Staat geboten. Aber warum? Weil eine Regierung zuallererst nur dem Nützlichkeitsprinzip gehorcht. Natürlich ist es zweckmäßig, das Staatsgebiet zu vergrößern (im Krieg mit Mexiko 1846-48 wurden Kalifornien, Arizona, New-Mexico, Nevada und andere Gebiete durch die USA dauerhaft annektiert). Natürlich ist es überaus ertragreich, unbezahlte leibeigene Arbeitskräfte grenzenlos ausbeuten zu können und so den eigenen Wohlstand zu mehren.

Demokratisches Mehrheitsprinzip ist defizitär

Doch der Einzelne kann nicht nur Nützlichkeitserwägungen folgen, er hat qua seiner Humanität ein moralisches Gewissen. Und diesem gilt es in erster Linie zu gehorchen. Das unterscheidet ihn von der unpersönlichen Staatsgewalt. Im Namen des Gewissens muss sich das Individuum gegen die Regierung, gegen den Staat gegebenenfalls zur Wehr setzen.

„Wenn ein Sechstel einer Nation, die sich selbst zu einer Zuflucht der Freiheit gemacht hat, versklavt ist, und wenn ein ganzes Land widerrechtlich überrannt, von einer fremden Armee erobert und dem Kriegsrecht unterworfen wird, dann, meine ich, ist es nicht zu früh für ehrliche Leute, aufzustehen und zu rebellieren. Und es wird nur noch dringender zur Pflicht durch die Tatsache, dass es nicht unser Land ist, welches man derart überrannt hat, und dass es unsere Armee ist, die dort einfällt.“

Eine demokratische Ordnung bietet keine befriedigende Lösung des Problems. Denn auch ein demokratischer Staat schadet letztlich mehr als er nützt, Gerechtigkeit kann auch er nur marginal bieten. Eine Wurzel des Übels sieht Thoreau im Mehrheitsprinzip.

Das ruft zunächst Stirnrunzeln hervor: Wie sollen denn sonst politisch-gesellschaftliche Fragen fair entschieden werden, wenn nicht durch den Willen der Mehrheit? Für Thoreau jedoch ist dieses Prinzip defizitär, denn Mehrheitsbeschlüsse sind nicht notwendigerweise gerecht. Eine Mehrheit kann alles Mögliche beschließen, gut heißen oder tolerieren – Ungerechtes ebenso wie Gerechtes. Nur weil die Mehrheit eines Staates beispielsweise ungerechte Kriege befürwortet oder stillschweigend akzeptiert, werden diese nicht automatisch gerecht.

Moralische Korruption ist nach Thoreau jeder existierenden Staatsform und jeder Regierung inhärent, und ganz generell sind diese eher mehr denn weniger korrupt. Was also ist die Lösung, wie soll sich der Einzelne, der seine Moralität als höchste Richtschnur ansieht, gegen den unmoralischen Staat wehren?

Friedlicher Ungehorsam gegen die Staatsmacht

Für Thoreau ist die Sache klar: Revolution! Aber sollte man nicht Vorsicht walten lassen hinsichtlich revolutionärer Umstürze? Haben Revolutionen oft nicht größeren Schaden als Nutzen angerichtet? Die Französische Revolution jedenfalls ertränkte ihre Ideale sehr bald in Strömen von Blut, die von den Guillotinen flossen. Auch in Russland wurde fünfzig Jahre nach Thoreaus Tod die grausame Herrschaft der Zaren von der grausamen Herrschaft der Sowjets abgelöst. Nach Revolutionen ersetzt oftmals eine Diktatur die andere.

Das Argument überzeugt Thoreau nicht. Übel wie Krieg und Sklaverei sind so abscheulich, dass man sie schlicht nicht dulden kann, und jedes Opfer, sogar das des eigenen Lebens, ist es wert, für ihre Abschaffung gebracht zu werden. Dabei ist Gewalt natürlich kein Mittel der Wahl. Das Schreckensregime der Jakobiner nach dem Ende der absoluten Monarchie in Frankreich 1789 ist kein Vorbild – denn auch hier wurden ja Vernunft und Moral des individuellen Gewissens ignoriert.

Was Thoreau im Sinn hat, ist ein friedlicher, wenn auch äußerst konsequenter und nachdrücklicher Ungehorsam gegen Staat und Regierung. Und eine hervorragende Option ist – wie könnte es bei einem Amerikaner anders sein – die Weigerung, seine Steuern zu zahlen. Denn wenn der Bürger auch noch so viel Unverständnis und Opposition gegenüber der Regierung ausdrückt –  indem er brav seine Abgaben entrichtet, legitimiert und unterstützt er sie. Zugleich ist der Staat durch diesen Widerstandsakt empfindlich zu treffen, denn ohne Steuereinnahmen lassen sich etwa Kriege schlicht nicht bezahlen.

Moralisches Wesen des Menschen ist unangreifbar

Sorgen vor allzu grässlichen Konsequenzen muss sich der Einzelne in seinem Kampf gegen den ‚Leviathan‘ Staat übrigens nicht machen. Zwar kann man im Gefängnis landen (Thoreau selbst erging es so, als er seine Steuern verweigerte) oder andere unangenehme Strafen und Disziplinierungsmaßnahmen an Körper und Sinnen erdulden müssen. Aber das innere, moralische Wesen des Menschen bleibt vor dem Zugriff des Staates geschützt.

„Wenn ein Mensch frei ist in seinen Gedanken, frei in seiner Phantasie und seiner Vorstellung, also in den Dingen, die nie für lange Zeit leblos bei ihm bleiben, dann können unkluge Herrscher oder Reformapostel ihm nie gefährlich in die Quere kommen.“

Jeder sollte Ungerechtes vermeiden

Warum aber ist es überhaupt nötig, zu derart drastischen Maßnahmen zu greifen? Reicht es nicht aus, bei Wahlen für einen Politikwechsel zu stimmen? Nein, tut es nicht, so Thoreau. Denn es genügt nicht, mit seinem Votum für Gerechtigkeit einzutreten, es ist notwendig, selbst gerecht zu sein.

Natürlich kann nicht jeder zum Revolutionär werden, nicht jeder kann sein Leben der gerechten Sache ganz verschreiben. Aber es würde schon ausreichen, meint Thoreau, wenn der Einzelne Ungerechtes vermeiden, also der ungerechten Sache seine stille Gefolgschaft verweigern würde. Und hier denkt er wieder groß von der Masse: Wenn jeder sich an diese Maxime halten würde, wären die Konsequenzen enorm.

Bei all seiner Wut und Empörung über seine Regierung steht Thoreau nicht an, einzuräumen, dass diese keineswegs die denkbar Schlechteste ist. Sie hat sogar große Verdienste. Aber es bleibt moralisch geboten, auf ihre stetige Verbesserung, das heißt auf die „wahre Achtung vor dem Individuum“, hinzuarbeiten.

Nur wenn Institutionen versagen, ist Widerstand legitim

Thoreaus Einfluss war und ist enorm. Mahatma Gandhi und Martin Luther King fanden hier Inspiration für ihren gewaltfreien Widerstand; Martin Buber und Leo Tolstoi zollten dem Amerikaner höchsten Respekt. In jüngerer Zeit war es die ‚Occupy‘-Bewegung, die sich Thoreaus Thesen wieder auf die Fahnen schrieb.

Dennoch ist Skepsis angebracht: Kann die letzte Instanz, die in einem Staat über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entscheidet, wirklich das Gewissen des Einzelnen sein? In den heutigen USA berufen sich auch jene gerne auf Thoreau, die etwa jegliche Form von Sozialstaat oder Einschränkungen des Rechts auf Waffenbesitz radikal ablehnen. Und weiter: Ist Revolution tatsächlich der gebotene Weg zur Verbesserung des Gemeinwesens und nicht dessen stetige, zwar langsame, aber nachhaltige Reformierung?

Selbstverständlich waren Gandhi, Mandela oder King im Recht, gegen offenkundig diskriminierende Regierungen aufzustehen und dem Staat auch durch den Bruch seiner Gesetze die Gefolgschaft zu verweigern. In einem Rechtsstaat jedoch muss es zunächst andere Optionen geben. Denn nur dann, wenn sich alle an die Gesetze halten – auch diejenigen, die begründet auf Missstände hinweisen -, kann die Demokratie funktionieren und undemokratischen Attacken standhalten.

Erst wenn die Institutionen, wenn Recht und Gesetz versagen, kann Widerstand gegen den Staat Legitimität erlangen. In den unruhigen Zeiten, die wir gegenwärtig erleben, sind Thoreaus anarchistische Tendenzen eher kontraproduktiv. Das Augenmerk sollte auf der Stärkung des Rechts und demokratischer Werte liegen.

Dennoch: Thoreaus Einwände gegen die Defizite auch demokratischer Staatswesen sind allemal wert, immer wieder rezipiert zu werden. In jedem Fall aber sollte man sich gerade hier und heute von seinem emphatischen Engagement für Gerechtigkeit anstecken lassen. Denn es ist überall und zu allen Zeiten geboten, gegen Willkür, Tyrannei und Diskriminierung aufzustehen. Das ist nicht nur ein Recht des Staatsbürgers, es ist die moralische Pflicht des Menschen.

H. D. Thoreau: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays“.  Aus dem Amerikanischen übersetzt, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Walter E. Richartz. Diogenes Verlag, Zürich 2010. 96 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-257-20063-8 .

 

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