Das Döblin-Projekt. Vorstellung

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

Heute beginne ich mein erstes Leseprojekt auf diesem Blog. Ich werde in den kommenden Monaten die gesamte erzählende Prosa von Alfred Döblin (1878-1957) in chronologischer Reihenfolge lesen. Im Abstand von etwa ein bis zwei Monaten werde ich hier nacheinander sämtliche Romane vorstellen, dazu die Erzählungen, das Versepos Manas und den halb-fiktionalen Bericht Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord. Jeden neuen Beitrag zu diesem Projekt werde ich natürlich wie bisher auf Instagram und Twitter ankündigen.

Das Projekt trägt den Titel:

Mehr Expressionismus wagen!

 

Inspiriert zu dieser Form hat mich der Blog Kaffeehaussitzer von Uwe Kalkowski. Vor ein paar Jahren stieß ich dort auf das Projekt zum Ersten Weltkrieg und war sofort begeistert. Ein Thema auf längere Zeit immer wieder neu von verschiedenen literarischen Sichtweisen zu beleuchten – das faszinierte mich auf Anhieb.

Oft hetzen Literaturblogs von einer Neuerscheinung zur nächsten, ohne Richtung, ohne roten Faden. Dagegen ist prinzipiell auch nichts einzuwenden, denn erstens kann natürlich jede/r mit dem eigenen Blog machen, was sie/er will, und zweitens ist es ja überhaupt nicht verkehrt, frei und ungebunden gerade das zu lesen und zu besprechen, was einem vor die Nase kommt.

Aber einem Thema, für das man sich begeistert und interessiert einmal konzentrierte, umfassende und längerfristige Aufmerksamkeit zu widmen – das hat einen ganz eigenen, unwiderstehlichen Reiz. So war mir also sofort klar, als ich im Sommer letzten Jahres diesen Blog hier ins Leben rief, dass ich diese Inspiration aufnehmen würde.  Nun ist es also soweit. Aber bevor es richtig losgeht, gilt es natürlich noch ein paar unausweichliche Fragen zu klären.

Warum nur ein einziger Autor?

Wäre es nicht sinnvoller, eine Epoche, einen Ort, ein Ereignis abzugrenzen und mehrere Autoren zu lesen, die sich mit diesem Thema befasst haben?

Ja, das ist natürlich möglich und Leseprojekte dieser Art gibt es in der Welt der Buchblogs ja einige, die des Kaffeehaussitzers geben ein Beispiel. Aber ich wollte mich eben ganz und gar nur einem einzigen Schriftsteller widmen. Denn mir geht es hier darum, ein literarisches Werk oder doch wenigstens einen wesentlichen Teil davon chronologisch und vollständig zu erfassen. Ich möchte einen Autor gleichsam von seinen schriftstellerischen Kindesbeinen an begleiten und dabei beobachten, wie er laufen lernt, wie er aus den Anfängen heraus zur ganzen Entfaltung seiner Möglichkeiten heranreift. Ihm dabei zuschauen, wie er zu dem wurde, der er ist (oder war).

Warum Alfred Döblin?

„Döblin? Alfred Döblin? Doch, da war was. Hat diesen berühmten Großstadtroman geschrieben, Berlin Alexanderplatz.“

So oder so ähnlich dürfte die Reaktion oftmals ausfallen, wenn der Name dieses Schriftstellers genannt wird. So war auch meine Reaktion bis vor gar nicht allzu langer Zeit. Und diese Verknappung ist ja nicht falsch. Döblin war und ist hauptsächlich für seinen Roman über den Transportarbeiter Franz Biberkopf bekannt. Und zurecht. Berlin Alexanderplatz ist ein großartiges, epochales Buch, dessen Publikation sich 2019 zum 90. Mal jährt. Indem sich Döblin der Form des experimentellen Großstadtromans bedient, der die Metropole nicht nur zum Schauplatz, sondern zum Akteur selbst macht, knüpft er an den Gipfel der Weltliteratur der 20er Jahre an, an Werke wie UlyssesManhattan Transfer und Mrs. Dalloway. Kein deutschsprachiges Werk jener Jahre ist derart auf der Höhe der Zeit.

Aber Döblin hat so viel mehr geschrieben als dieses eine berühmte und bedeutende Buch. Er hat zehn Romane verfasst (wenn man die ganz frühen Jugendwerke nicht mitzählt) und zahlreiche Erzählungen, von denen auch nur eine  – Die Ermordung einer Butterblume – noch halbwegs bekannt ist. Außerdem ein Versepos, Drehbücher, Theaterstücke, Essays, Reportagen und (linke) politische Streitschriften.

Was genau interessiert mich an Döblin?

Es gibt fünf Charakteristika, die Döblins fiktionales Schreiben für mich so überaus interessant machen: Erstens hat er sich immer wieder neu erfunden, hat mit Stilen, Formen, Themen experimentiert, und niemals zweimal dasselbe geschrieben. Eine gewisse Konstante im Werk stellen historische Romane dar, aber auch in diesem ja nicht unbedingt innovativen Genre ist seine Varianz enorm.

Da gibt es Romane über das Alte China (Die drei Sprünge des Wang-Lun), den Dreißigjährigen Krieg (Wallenstein), die Kolonisation Amerikas durch die spanischen Konquistadoren (Amazonas) und über den Beginn der Weimarer Republik (November 1918. Eine deutsche Revolution). Mit dem futuristischen Roman Berge Meere und Giganten hat Döblin zudem Science-Fiction geschrieben, bevor es das Genre überhaupt gab. Und vieles mehr.

Diese Bandbreite und das Interesse, immer wieder Neues auszuprobieren, führt – zweitens – dazu, dass Döblin an nahezu allen literarischen Strömungen seiner Zeit Anteil hat: am Futurismus, Expressionismus, an der Neuen Sachlichkeit, der Exil- und Nachkriegsliteratur. Das unterscheidet ihn von den allermeisten deutschsprachigen Zeitgenossen seiner Epoche, von Kafka und Musil, Brecht und Anna Seghers, Thomas und Heinrich Mann, Joseph Roth, Erich Kästner, Hans Fallada, Hesse, Feuchtwanger, Werfel, Broch etc.

Sicher kommt dem Expressionismus dabei der größte und nachhaltigste Einfluss auf Döblins Schreiben zu, weshalb ich diesem Leseprojekt auch den Titel Mehr Expressionismus wagen! gegeben habe.

Drittens – und das finde ich besonders spannend- hat Döblin seine permanenten schriftstellerischen Häutungen und Neuanfänge in der Regel auch theoretisch fundiert. Es gibt zahlreiche Essays von ihm zur Theorie des Romans, die seine literarische Arbeit stetig begleiten. Diese Verbindung von Theorie und Praxis ist einzigartig und lässt den Leser am fortlaufenden Experiment Döblins mit epischen Formen unmittelbar teilhaben. Man kann dem Autor bei seiner Entwicklung genau über die Schulter blicken.

Viertens interessiert mich Alfred Döblins Wirkungsgeschichte. Oder genauer gesagt: Die Nicht-Wirkung des größten Teils seines literarischen Werkes. Wie für fast alle seine schreibenden Zeitgenossen stellte auch für Döblin das Ende der Weimarer Demokratie und damit das erzwungene Exil eine enorme, entscheidende Zäsur dar.

Döblin steht stellvertretend für eine ganze Reihe von Schriftstellern der Zwanziger Jahre, die auch nach dem Ende des Krieges kein Bein mehr auf die Erde bekamen. Die durch die Nazizeit und das erzwungene Exil hervorgerufene Disruption ihrer Wirkung blieb bestehen. Die neue Generation der Schriftsteller im geteilten Deutschland wollte mit den Altvorderen der Literatur nichts mehr zu tun haben. Lediglich in der sowjetisch besetzten Zone bzw. der frühen DDR konnten einige Autoren der Weimarer Republik wie Bert Brecht und Anna Seghers noch an frühere Erfolge anknüpfen.

Im Westen hielt man das alles für kalten Kaffee. Stattdessen suchte und fand man stilistische Vorbilder in der Literatur der Befreier, den USA. Für Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Martin Walser und viele andere gaben Faulkner und in noch stärkerem Maße Ernest Hemingway die entscheidenden Anregungen für das eigene Schreiben. Ein Ausnahme, die nicht verschwiegen werden darf, ist Günter Grass, der sich immer anerkennend über Döblin geäußert hat und ihn gar als seinen ‚Lehrmeister‘ bezeichnete.

Außerdem möchte ich – fünftens – die Frage stellen, inwiefern ein so radikaler und dezidiert moderner Autor wie Döblin richtungsweisend oder wenigstens impulsgebend für zeitgenössisches Erzählen sein kann. Was sagt uns sein kraftvoller und experimenteller Formenreichtum heute, und welche zeitgenössischen Schriftsteller wandeln (bewusst oder unbewusst) in seinen Spuren?

Der Ablauf des Projektes

Noch ein paar Worte zum Ablauf: Ich werde zunächst die Romane chronologisch lesen, mit einer Ausnahme ganz zu Beginn: Die frühen Romane Jagende Rosse und Der schwarze Vorhang überspringe ich erst einmal und beginne gleich mit Wang-Lun. Auf das Frühwerk komme ich dann am Ende zu sprechen; hier bietet sich die Gelegenheit, aus der Rückschau die Anfänge zu betrachten. Immer parallel zu meiner Lektüre der Romane lese ich die literaturtheoretischen Essays. Nach den Romanen (zu denen ich auch das Epos Manas zähle) widme ich mich den Erzählungen.

Die Textgrundlage bilden die bei S. Fischer im Taschenbuch erschienenen Gesammelten Werke in 24 Bänden, herausgeben von Christina Althen. Diese Ausgabe ist hervorragend ediert (wenn auch leider nicht kommentiert) und, soweit ich sehe, uneingeschränkt verfügbar.

Zur Einführung möchte ich noch auf diese hervorragende Monographie zu Döblin verweisen (es gibt in dieser Form nichts Besseres):

© Reclam Verlag

Gabriele Sander: Alfred Döblin. Reclam Verlag, Stuttgart 2001. 397 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-15-017632-0.

In diesem Sinne: Mehr Expressionismus wagen!

Eine Inhaltsübersicht des Leseprojektes findet sich hier.

 

3 Gedanken zu „Das Döblin-Projekt. Vorstellung“

  1. Eine interessantes Leseporjekt, sich mit den Werken eines bestimmten Autors zu beschäftigen, in chronologischer Reihenfolge bekommt man dann bestimmt auch einen guten Einblick wie sich dieser im Laufe der Zeit verändert hat.
    Ich habe bisher keine Bücher von Döblin gelesen und kenne namentlich auch nur Berlin, Alexanderplatz. Deine Argumente haben mich allerdings neugierig gemacht, mich vielleicht mal näher mit dem Autor auseinanderzusetzen. Liebe Grüße, Nadine
    #linetzwerk

  2. Hallo Julian!

    Ich finde das Projekt und die Idee dahinter sehr spannend. Mit meinem #WiderDasVergessen Projekt habe ich mich vergangenes Jahr intensiv mit dem zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt. Dabei habe ich jedoch auch sehr oft zu Neuerscheinungen gegriffen. Mein Projekt läuft nach wie vor weiter, wenn auch auch nicht mehr mit der deutlichen Fokussierung.

    Sich einen Autor/eine Autorin zu suchen und über das ganze Jahr immer wieder zu begegnen klingt fantastisch. Döblin, ist mir ehrlich gesagt kein Begriff. Deine 5 Gründe für diesen Autor, machen richtig Lust sich seine Werke näher anzusehen.

    Liebe Grüße
    Sabrina

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