Ein farbenblindes Chamäleon

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Vladimir Nabokovs erster Roman in englischer Sprache entsteht im Winter 1938/39 unter bedrückenden Bedingungen kurz vor der Flucht des Schriftstellers aus Frankreich. Das wahre Leben des Sebastian Knight, zugleich fiktive Künstlerbiographie und Detektivgeschichte, ist verrätselt, spielerisch-elegant und tiefgründig.

Die Geschichte dieses Buches ist selbst ein Roman: Das wahre Leben des Sebastian Knight, Vladimir Nabokovs (1899-1977) erstes größeres Werk in englischer Sprache, entsteht Ende 1938, Anfang 1939 im Pariser Exil. Die Lebens- und Schreibbedingungen sind prekär: Um in der winzigen Einzimmerwohnung ungestört arbeiten zu können, zieht sich Nabokov ins Badezimmer zurück und schreibt auf einem quer über das Bidet gelegten Holzbrett.

Es ist der Vorabend des Zweiten Weltkrieges, erst vor kurzem sind die Nabokovs aus Deutschland geflohen, wohin sie die Russische Revolution vertrieben hatte. In Berlin war rasch eine riesige russische Exilgemeinde entstanden, hier hatte Vladimir seine aus jüdischer Familie stammende Frau Véra kennengelernt und als Exilschriftsteller Fuß gefasst. Erst 1937, als das Leben im nationalsozialistischen Deutschland unerträglich geworden war, konnte sich der Schriftsteller durchringen, nach Frankreich zu emigrieren. Doch der drohende Krieg wirft bald seine Schatten voraus. Nabokov ahnt, dass sie nicht lange in Europa bleiben können. Aber welche Perspektive hat er als Autor von neun in russischer Sprache verfassten Romanen und zahlreichen Erzählungen, die außerhalb der Exilgemeinde in Berlin und Paris kaum jemand gelesen hat?

Schwierigkeiten des Sprachwechsels

Nabokov weiß, dass er seine Sprache und Identität wechseln muss, wenn er den Kontinent verlassen will. Glücklicherweise beherrscht der Schriftsteller das Englische nahezu perfekt. Als Kind überaus wohlhabender und gebildeter Eltern ist er im zaristischen Russland in der Obhut ausländischer Gouvernanten und Privatlehrer dreisprachig aufgewachsen. Seinen neuen, zehnten Roman wird er daher auf Englisch schreiben und beabsichtigt, ihn bei einem literarischen Wettbewerb in Großbritannien einzureichen.

Dennoch geht Nabokov der Sprachwechsel nicht mühelos von der Hand, wie er später in seiner Autobiographie Erinnerung, sprich gestehen wird:

„Die langjährige Gewohnheit, sich auf eigene Art auszudrücken, gestattete es nicht, sich in der neuen Sprache mit Schablonen zufriedenzugeben – und die ungeheuren Schwierigkeiten der bevorstehenden Veränderung, das Entsetzen bei der Trennung von einem lebendigen, zahmen Wesen [der russischen Sprache] versetzten mich zunächst in einen Zustand, über den sich auszubreiten hier nicht nötig ist; ich will nur sagen, daß vor mir kein Schriftsteller eines bestimmten Niveaus derartiges durchgemacht hat.“

Vorerst allerdings ist an eine baldige Publikation des Manuskriptes nicht zu denken. Stattdessen macht sich angstvolle Ungewissheit breit. Die Kriegsgefahr spitzt sich immer mehr zu, im September 1939 schließlich überfällt die Wehrmacht Polen. Frankreich und Großbritannien erklären Nazi-Deutschland den Krieg. Der letzte Ausweg ist eine Flucht in die USA, doch um überhaupt die Chance auf ein Visum für sich und seine Familie zu haben, braucht Nabokov eine reguläre Arbeit. In Cambridge hat er Anfang der Zwanziger Jahre Literatur studiert, er könnte an eine Universität gehen. Verzweifelt schreibt er an Bekannte und Wohlgesonnene jenseits des Ozeans, ob sie ihm nicht eine Stellung irgendwo an einem kleinen College beschaffen könnten.

Flucht in letzter Minute

Nur mit äußerster Anstrengung und viel Glück gelingt es dem Schriftsteller, eine Lehrtätigkeit in Neuengland zu finden. Im Mai 1940 schließlich überquert die Familie Nabokov mit der SS Champlain den Ozean – es ist die letzte Fahrt des Passagierschiffes von Frankreich nach New York. Auf der Rückreise nach Paris wird der Dampfer von einem deutschen U-Boot versenkt. Eine gerade noch rechtzeitige Flucht.

Erst 1941, Nabokov unterrichtet inzwischen Literatur am Wellesley College in Massachusetts, erscheint sein erster englischer Roman Das wahre Leben des Sebastian Knight. Es ist eine Künstler- und Detektivgeschichte, vor allem aber ein literarisches Vexierspiel, das sich leicht lesen, aber nicht leicht durschauen lässt. Ein großer Erfolg wird das Buch nicht. Doch einige einflussreiche Leute in der englischsprachigen Welt sind nun aufmerksam auf den russischen Emigranten geworden.

Auf den Lebensspuren des Bruders

Wovon handelt nun der Roman? Der Erzähler, ein Exilrusse, der sich nur „V.“ nennt, schreibt, ganz wie der Autor selbst, sein erstes englisches Buch, die Biographie seines verstorbenen Halbbruders, des Schriftstellers Sebastian Knight. Mit diesem Werk möchte V. den Eindruck korrigieren, den ein anderes, halbseidenes und oberflächliches Buch über Sebastian hervorgerufen hat, das dessen ehemaliger Agenten Goodman verfasst hat. Doch V. weiß allzu wenig über seinen sechs Jahre älteren Bruder. Er erinnert die gemeinsame Kindheit im vorrevolutionären Russland, doch mit dem Erwachsenwerden und dem Studium Sebastians in Cambridge trennten sich die Wege der beiden. Nur selten trafen die Brüder später aufeinander, zeitlebens blieben sie distanziert und einander fremd.

Um das Leben und den Charakter Sebastians zu ergründen, bleibt V. nur zweierlei: Er liest die Bücher des Bruders (und zwar genauer als Mr. Goodman) und folgt seinen Lebensspuren. So sucht er die Collegefreunde Sebastians in Cambridge auf, die sich an den zurückhaltenden und einzelgängerischen Studenten jedoch nicht allzu lebhaft und detailliert erinnern. Auch die ehemalige Gouvernante Sebastians, eine alte Schweizerin, bringt V. nicht weiter. Er erkennt: Sein Bruder war ein zutiefst einsamer Mensch, der sich zwar nach Anerkennung sehnte, zugleich aber unfähig war, die Codes der Gesellschaft zu lesen und dauerhaft engere Bindungen zu anderen aufzubauen. Sebastian selbst hat dies in einem seiner Romane, aus denen V. ständig zitiert, zum Ausdruck gebracht:

„In meinem unglückseligen Bestreben, mich der Farbe meiner Umgebung anzupassen, benahm ich mich wie ein farbenblindes Chamäleon.“

Mehr verspricht sich der Erzähler schließlich davon, das Liebesleben seines Bruders zu rekonstruieren. Nach einer langen Beziehung mit einer Engländerin namens Clare Bishop, die er abrupt beendet hat, war Sebastian in den letzten Jahren vor seinem Herztod noch ein offenbar leidenschaftliches, aber unglückliches Verhältnis zu einer geheimnisvollen Frau namens Nina verstrickt, deren Spuren jedoch zunächst völlig verwischt scheinen.

Hier stimmt etwas nicht

Von Clare kann V. nicht viel erfahren, und auch als er schließlich über zahlreiche Umwege Nina entdeckt (oder vielmehr: ihre maskierte Identität entlarvt), bringt ihn das seinem Bruder nicht näher. Sebastian bleibt der gepanzerte Ritter, der Springer („Knight“ bezeichnet im Englischen diese Schachfigur), der sich allen Versuchen, ihn zu stellen, zu fixieren, entzieht. Nur in seinen Büchern, die so seltsame Namen wie „Die Fase des Prismas“ oder „Die zweifelhafte Asphodele“ tragen, findet V. Sebastians Inneres offengelegt. Alles, was in seinem Leben wichtig war, verbirgt sich hier, und auf diese, aber nur diese Weise lässt sich der Bruder lesen.

Wer sich für das Leben eines Schriftstellers interessiert, der sollte also alle biographischen Erkundungen sein lassen und sich in erster Linie mit dem Werk beschäftigen – ist das nicht eine recht simple, wenig originelle Botschaft, die hier transportiert wird? Mag sein, aber Nabokov wäre ja nicht Nabokov, wenn das schon alles wäre. Unter der Oberfläche dieses Romans brodelt es gewaltig. Aufmerksam Lesende merken rasch, dass hier etwas nicht stimmt, dass es überall kleine Irritationen gibt, die wie Sprengsätze das vermeintlich realistische Erzählszenario zum Einsturz bringen. Warum etwa begegnet V. bei seiner Suche immer wieder Gestalten, die konkrete Figuren aus Sebastians Romanen zu sein scheinen? Handelt es sich bei einigen Wendungen der Geschichte nicht um etwas arg unwahrscheinliche Zufälle? Und warum macht der Erzähler V. ein so großes Geheimnis um seinen Namen?

Unsichere Identitäten

Am Ende des Romans erinnert sich V. an seinen verzweifelten Versuch, den sterbenden Bruder noch in der Klinik zu besuchen und ein letztes Mal bei ihm zu sein. Nach zahllosen absurden Hindernissen gelangt er schließlich in das Krankenzimmer, lauscht auf die flachen Atemzüge des Kranken und reflektiert die Beziehung zu Sebastian – nur um wenig später festzustellen, dass eine Verwechslung vorliegt. V. hat am Bett des Falschen gesessen und der Bruder ist bereits gestorben (auch hierbei handelt es sich um die Spiegelung einer Knightschen Romanepisode). Und doch erfährt V. diese Nicht-Begegnung als eine Art Epiphanie. Er fühlt sich Sebastian plötzlich so nahe, als seien ihre Identitäten austauschbar, ja als handele es sich um ein und dieselbe Person:

„Sebastians Maske haftet an meinem Gesicht, die Ähnlichkeit läßt sich nicht herunterwaschen. Ich bin Sebastian, oder Sebastian ist ich, oder vielleicht sind wir beide jemand, den keiner von uns kennt.“

Damit schließt der Roman in einer Kreisbewegung – denn hierbei handelt es sich um dasjenige Erlebnis, das V. zum Schreiben der Biographie Sebastians und seiner langwierigen Recherche überhaupt bewegt hat. Ist aber V. nun in Wahrheit Sebastian, ist Das wahre Leben des Sebastian Knight gar keine Biographie, sondern nur ein weiter Roman desselben und V. eine Figur darin? Oder ist umgekehrt Sebastian ganz und gar die Erfindung V.s? Oder, eine weitere Möglichkeit, sind sie beide Figuren im Spiel eines Dritten, „den keiner von uns kennt“? Das wäre dann wohl der Autor Vladimir Nabokov, der sich in beiden Figuren, seinem Vielleicht-Namensvetter V. und in Sebastian Knight, spiegelt.

Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen

Auflösen lässt sich das Rätsel nicht. So wie V. in der Geschichte Sebastian umkreist, ohne ihn wirklich zu ergründen, so bleibt der Text für den Leser undurchsichtig und zweifelhaft. Alle Deutungen sind vorläufig, unvollständig, einander widersprechend und doch möglich.

Doch so beeindruckend dieses postmodern anmutende Verwirrspiel auch erscheinen mag – ein wenig wirkt der Texte dadurch unausgewogen. Wozu das Ganze? Wozu darüber hinaus die sprachliche Opulenz, die, so scheint es, die Vertrautheit des Autors mit der englischen Sprache überdeutlich demonstrieren soll? Nabokov selbst war später nicht ganz glücklich mit diesem Buch. In seiner Autobiographie Erinnerung, sprich bemängelt er  – ein wenig zu selbstkritisch – „unerträgliche Unzulänglichkeiten“ und nennt den Roman eine Ansammlung von „Glorietten und Selbstmattkombinationen“. Als heutiger Leser mag man sich auch an Nabokovs Frauenfiguren stoßen, die in diesem Roman allzu schematische Klischees reproduzieren: Hier die sich für den Mann aufopfernde, selbstlose Clare, dort die schillernde Teufelin und Femme fatale Nina.

Und doch: Man sollte diesen bemerkenswerten, feinsinnigen und klugen Roman unbedingt lesen, erst recht, wenn man sich für den Autor und seine Entwicklung interessiert. Vieles kehrt im späteren, reifen Werk wieder, vor allem in Fahles Feuer (1962), worin es ebenfalls um den Versuch eines Exegeten geht, dem bewunderten und verstorbenen Schriftsteller näherzukommen. Wie die späteren Werke hat auch Das wahre Leben des Sebastian Knight ein ganz eigenen Klang und beschreibt eine Atmosphäre, die man nur bei diesem Schriftsteller und nirgends sonst findet: Ein Nabokov-Roman durch und durch.

Vladimir Nabokov: „Das wahre Leben des Sebastian Knight“. Roman. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. Taschenbuch, 304 Seiten. ISBN 978-3-498-04644-6.

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