
Seltsame Vermisstenfälle erschüttern die unwirtliche Andenwelt Perus. Sind linksextreme Terroristen, die in der Gegend ihr Unwesen treiben, dafür verantwortlich? Oder steckt ein geheimnisvoller, uralter Kult der Dorfbewohner dahinter? Der aus der Großstadt abkommandierte Polizist Lituma und sein Assistent Tomás müssen rasch feststellen: Mit ihrem eingeübten Vernunft- und Ordnungsdenken kommen sie hier nicht weiter. Denn in diesen Bergen walten andere Kräfte.
Es gibt literarische Texte, die lassen im Kopf sofort eine Landschaft entstehen, ein bestimmtes Klima, eine Atmosphäre. Auch wenn man nie dort war, wo der Roman spielt, meint man alles mit eigenen Augen zu sehen. Gerüche und Geräusche erscheinen nach einer Weile bekannt, die Menschen vertraut. Ein solches sensualistisches Kunststück gelingt dem jüngst verstorbenen peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa in seinem Roman Tod in den Anden (span. Lituma en los Andes) aus dem Jahr 1993.
Ein rätselhafter Fall
Die Handlung folgt dem Gendarmerie-Offizier Lituma und seinem Assistenten Tomás, die in ein abgelegenes Bergdorf in den peruanischen Anden versetzt werden. Dort soll Lituma das Verschwinden dreier Menschen untersuchen. Auf den ersten Blick sieht alles wie ein klassischer Kriminalfall aus, doch je weiter die Ermittlungen der beiden Polizisten fortschreiten, desto undurchsichtiger und rätselhafter wird die Angelegenheit. Zunächst fällt der Verdacht auf die maoistische Terrorgruppe ‚Sendero Luminoso‘ (Der leuchtende Pfad), die von den Bergen aus gegen Staat und Regierung kämpft. Bald aber geraten auch die Dorfbewohner in Verdacht: Sind die Verschwundenen Opfer eines archaischen Ritualmordes geworden? Die Hinweise bleiben diffus, die Dörfler verweigern sich der Rationalität der Ermittler und ihren Fragen:
„Sie wollten nicht reden. Nicht einmal, um sich zu verteidigen. Vielleicht, weil sie etwas zu verbergen hatten. Oder weil sie wussten, dass es besser war, zu schweigen.“
Dieser eigensinnige Schweigeakt ist ein zentrales Motiv des Romans. Es ist nicht nur Angst vor der Gerichtsbarkeit, die die Menschen verstummen lässt, sondern vor allem eine grundlegend verschiedene Weltsicht, in der die Vernunft keine unumschränkte Deutungsmacht besitzt. Lituma, Vertreter eines nüchtern-urbanen Denkens, bleibt hilflos. Er kann nicht begreifen, dass in dieser archaischen Bergwelt andere Gesetze gelten – spirituelle, zyklische, gemeinschaftsgebundene. Seine Ermittlungen müssen letztlich ins Leere laufen, weil er die kulturellen Tiefenschichten der Anden nicht aufbrechen und durchdringen kann.

Zusammenprall zweier Kulturen
Damit inszeniert Tod in den Anden den Zusammenprall zweier Kulturen: einer modernen, auf Aufklärung, Staatlichkeit und Gesetz basierenden Ordnung, und einer archaischen, an Mythen, Naturgöttern und kollektivem Gedächtnis orientierten Lebensweise. Verkörpert wird dieser alte, beinah heidnische Weltentwurf von der Dorfheilerin Dionisia und ihrem Begleiter und Geliebten Adolfo. Ihre Andeutungen über Opfergaben an die Erdgöttin Pachamama verweisen auf eine symbolische Ordnung, die sich der westlichen Logik vollständig entzieht. Doch dabei handelt es sich eben nicht um bloßen Aberglauben, sondern um ein eigenständiges, kulturell tief verankertes System von Bedeutung und Zugehörigkeit.
Diese mystisch aufgeladene Realität bleibt nicht nur folkloristischer Hintergrund, sondern wirkt wiederum unmittelbar auf das politische Geschehen ein. Der Terror des ‚Sendero Luminoso‘ – in der Realität eine brutale linke Guerillabewegung, die Peru in den 1980er Jahren erschütterte – erscheint im Roman nicht als reines politisches Phänomen, sondern als Ausdruck eines tieferen sozialen und kulturellen Bruchs. Die Gewalt wirkt fast schicksalhaft, unentrinnbar, als wäre sie Teil eines kosmischen Zyklus. „In diesen Höhen wird man verrückt. Hier funktioniert nichts so, wie man es aus der Stadt kennt“, muss Lituma resigniert feststellen. Nicht nur räumlich, auch geistig besteht eine Distanz zwischen dem urbanen, westlich geprägten Zentrum und der Peripherie der Andenwelt.
„Der Berg ist ein Gott“
Neben dieser politischen und kulturellen Ebene entfaltet der Roman auch eine intime: In den dunklen, frostigen Nächten, die sie während ihrer Ermittlungen in der öden Bergwelt verbringen, erzählt Tomás seinem Vorgesetzten immer wieder von seiner Angebeteten Mercedes. Diese Liebesgeschichte kontrastiert die allgegenwärtige Kälte und Gewalt, sie erscheint als letzte Zuflucht des Individuums, als Moment der Wärme inmitten einer feindlichen Umgebung. Doch der Trost ist nur von kurzer Dauer, die Liebe scheitert – an gesellschaftlichen Konventionen, an Herkunft (Mercedes ist weiß, Tomás nicht) und Schamgefühl:
„Sie war wie ein Licht, das kurz aufflackerte, dann wieder verschwand. Und man weiß nicht, ob es überhaupt da war.“
Schließlich wird im Roman auch die Landschaft selbst zum Symbolträger. Die Berge stellen keine bloße Kulisse dar, sondern eine eigene metaphysische Macht, deren Schweigen, Kälte und Größe unverfügbar und unbeherrschbar bleibt. Mehr als nur unwirtliches Territorium ist die Andenwelt auch Ausdruck einer irrationalen Tiefe; ein Sinnbild des Anderen, Fremden, Unverstandenen, dem der Mensch hilflos gegenübersteht: „Der Berg ist ein Gott. Und er vergisst nicht.“

Kritik am Fortschrittsdenken
Damit lässt sich Tod in den Anden auch als pessimistische Kritik am westlichen Fortschrittsdenken lesen. Hier werden die Grenzen einer Moderne aufgezeigt, die mit Technologie und Ordnung jegliches Problem zu lösen vermeint. Dargestellt wird eine Welt, in der der Staat gescheitert ist, die Menschen in Angst leben und selbst die Sprache – eigentlich Mittel der Aufklärung und Vermittlung – machtlos bleibt.
Der Roman zeichnet ein düsteres Bild der peruanischen Gesellschaft und spiegelt damit durchaus die Erfahrungen seines Autors wider. Den berühmten und gefeierten Schriftsteller Vargas Llosa hatte es in den 1980er Jahren in die Politik gezogen. Enttäuscht von den lateinamerikanischen Linken, die immer stärker einem unkritischen Führerkult und ideologisch motivierter Gewalt verfielen – der einst gefeierte Fidel Castro verfolgte oppositionelle Intellektuelle mit äußerster Brutalität–, wandte sich Vargas Llosa dem Liberalismus zu. 1990 bewarb er sich um das Präsidentenamt, verlor aber gegen den Populisten Alberto Fujimori, der später wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen seines Amtes enthoben wurde.
Die mit dieser Erfahrung verbundenen Enttäuschungen verarbeitete der zum Schreibtisch zurückgekehrte Autor dann in seiner Literatur. Tod in den Anden, der erste Roman nach der gescheiterten Präsidentschaftskandidatur, konfrontiert seine Leser mit der Frage, ob Vernunft und Fortschritt universell anwendbar sind – oder ob es Räume gibt, in denen gänzlich andere Kräfte walten. Lituma, der am Ende abziehen muss, steht sinnbildlich für das Scheitern eines rationalen Zugriffs auf eine Wirklichkeit, die sich jeder Kategorisierung entzieht. Vargas Llosa gelingt es, dieses in den südamerikanischen Gesellschaften nach wie vor präsente Spannungsfeld literarisch vielschichtig und atmosphärisch äußerst dicht zu gestalten – ein Roman, der weit über das Genre des Kriminalromans hinausreicht.
Mario Vargas Llosa: Tod in den Anden. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 384 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-518-39274-4.