„Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?“

© S. Fischer Verlag

Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun ist ein Meisterwerk des Expressionismus und einer der großen Romane des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel des chinesischen Rebellen Wang-lun verhandelt der Roman die Möglichkeiten des Widerstands gegen autokratische Unterdrückung. Soll man passiv und duldsam protestieren oder zum Mittel der Gewalt greifen?

Als der 35jährige Psychiater Alfred Döblin im Mai 1913 einen programmatischen Essay veröffentlicht, das sogenannte Berliner Programm (An Romanautoren und ihre Kritiker), ist er zwar kein Unbekannter mehr, aber auch noch kein berühmter Autor. Zwei kleinere Romane hat er in seiner Jugend verfasst, dazu einen Band mit Erzählungen, Die Ermordung einer Butterblume.  Für diesen hat er wohlwollende, teils sogar enthusiastische Kritiken erhalten, aber außerhalb der recht kleinen expressionistischen Literaturszene ist sein Name bislang kaum ein Begriff.

Im Bann des Futurismus

Wie so viele Künstler seiner Zeit gerät Döblin am Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn zunächst in den Bann des Futurismus. Der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944) hatte unter diesem Schlagwort eine totale Revolution aller Künste ausgerufen: Weg mit dem Überkommenen, weg mit verstaubten Traditionen und der musealen Konservierung der Kunst! Marinetti fordert eine radikale Erneuerung, die sich ganz den dynamischen Innovationen der eben angebrochenen Moderne verschreibt: der Begeisterung für Technik, für Maschinen, Beschleunigung und Simultaneität.

Der größte Manspreader aller Zeiten: F. T. Marinetti, ca. 1915. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs warf er sich Benito Mussolini in die Arme, der ihn zum Dank zu einer Art Nationaldichter des faschistischen Italiens erhob. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Diktatur Mussolinis wurde dann auch Marinettis Futurismus endgültig obsolet.

In zahlreichen Manifesten proklamiert der Italiener seine progressiven Thesen, die sich wie ein Lauffeuer unter den jungen, nach Aufbruch gierenden Künstlern – Malern, Schriftstellern, Bildhauern, Komponisten – verbreiten. Der Futurismus ist die erste gesamteuropäische Strömung der Moderne. Auch Döblin ist begeistert vom frischen Wind, der aus dem Süden weht. Vor allem bildende Künstler wie Umberto Boccioni üben eine große Faszination auf ihn aus. In den futuristischen Skulpturen und Gemälden erkennt Döblin einen ästhetischen Gegenentwurf zur miefigen, reaktionären Enge und Stumpfheit des späten Kaiserreichs.

„Ich pflege meinen Döblinismus“

Doch schon bald wachsen Döblin Zweifel an den großspurigen, breitbeinigen Thesen Marinettis. Zu sehr ist er Individualist, als dass er sich von der immer stärker sektiererische Züge annehmenden Bewegung vereinnahmen lassen kann. Sinn und Nutzen etwa der propagierten totalen Zertrümmerung der traditionellen Syntax mag Döblin nicht recht einleuchten. In einem an Marinetti gerichteten Offenen Brief, der den Titel Futuristische Worttechnik trägt, emanzipiert er sich von dem einstigen Vorbild, dem er nun entgegenhält, mehr zu zerstören, als zu erneuern. „Pflegen Sie Ihren Futurismus, ich pflege meinen Döblinismus.“

Doch so harsch und selbstbewusst diese Lossagung auch klingt, Döblin wirft nicht alles wieder über Bord, was der Futurismus an literarischen Impulsen mit sich brachte. Im Berliner Programm entwirft Döblin , wie der Roman der Gegenwart (und Zukunft) für ihn auszusehen hat: Er teilt weiterhin Marinettis grundsätzliche Bejahung des Fortschritts. In einer Epoche des raschen Wandels kann die Tradition nicht mehr als Richtschnur dienen. Auch lehnt Döblin die Autonomie der Kunst, das ‚l’art pour l’art‘, entschieden ab. Kunst hat nicht um sich selbst zu kreisen, sondern muss sich mit der Realität auseinandersetzen. Die Konflikte und Brüche, die in der Gesellschaft existieren, müssen vom Roman aufgenommen und reflektiert werden. Also raus aus dem Elfenbeinturm!

Abkehr von der konventionellen Psychologie

Entschieden befürwortet Döblin weiterhin die vom Futurismus geforderte Beschleunigung der Sprache, die Reduktion auf Sachlichkeit und die Verabschiedung des Subjektivismus. Besonders auf letzteren hat er es abgesehen. Döblin fordert eine „depersonale Poetik“, die nicht mehr die Innenwelten der Protagonisten zeigt, sondern gleichsam eine Perspektive von außen einnimmt. Statt an konventioneller Psychologie soll sich der Gegenwartsroman an der klinischen Psychiatrie orientieren. Das Deuten und Erklären soll dem Protokollieren weichen.

„Man lerne von der Psychiatrie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen ganzen Menschen befasst; sie hat das Naive der Psychologie längst erkannt, beschränkt sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen, – mit einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ‚Warum‘ und ‚Wie‘.“

Aber wie lassen sich diese kühnen Forderungen erzählerisch umsetzen? Wie lässt sie die Komplexität der äußeren Welt angemessen erfassen? Eine wichtige Anregung wird für Döblin das neue Medium Film. Wie der etwas jüngere Franz Kafka ist auch Döblin ein begeisterter Kinogänger und findet in den Montage- und Schnitttechniken entscheidende Inspiration für sein Schreiben.

„Knappheit, Sparsamkeit der Worte ist nötig; frische Wendungen. Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen.“

Eine solche Art der Darstellung gesteht auch der Subjektivität des Autors keinen Platz mehr zu. Dieser soll seinen übermächtigen Erzählstandpunkt aufgeben und sich selbst entäußern, ja verleugnen, kurz: hinter der Welt der Objekte verschwinden („Die Hegemonie des Autors ist zu brechen“).

Fasziniert vom Thema des politischen Widerstands

Als Döblin sein ambitioniertes Programm verfasst, hat er gerade selbst einen Roman beendet, an dem er die Umsetzung seiner kühnen Thesen erprobt hat. Das Buch soll ihm, dem nicht mehr ganz jungen Autor, zum endgültigen Durchbruch verhelfen.

Angeregt durch zeitgenössische politische Umwälzungen in Asien greift Döblin auf die historische Figur des Rebellen Wang-lun zurück, der im China des 18. Jahrhunderts mit seiner Anhängerschaft gegen die Qing-Dynastie aufbegehrte. Das Thema des politischen Widerstands revolutionärer Kräfte gegen eine dekadente, korrupte und übermächtige Staatsmacht fasziniert den Autor.

Frustriert von seinem Berufsalltag als praktizierender Arzt in Berlin vergräbt sich Döblin tief in die chinesische Geschichte und Kultur. Zur Vorbereitung für sein Romanprojekt wälzt er endlos Reiseberichte, Alltagsschilderungen und religionsgeschichtliche Werke. Im Botanischen Garten studiert er die exotische Vegetation, im Völkerkundemuseum Kleidung und Gegenstände des täglichen Lebens. Er eignet sich genaue Kenntnisse des Verwaltungs- und Militärapparats des chinesischen Staates an und exzerpiert wie ein Besessener. In einem knappen Jahr vollendet Döblin das Manuskript, er schreibt in jeder freien Minute.

Konflikt zwischen Dulden und Handeln

Erzählt wird im Roman in freier Anlehnung an die historischen Tatsachen die Lebensgeschichte Wang-luns, der als Sohn eines einfachen Fischers zunächst zu einem Taugenichts und Dieb heranwächst. Die brutale Ermordung seines muslimischen Freundes Su-koh durch kaiserliche Soldaten wird für ihn zum traumatischen Schlüsselerlebnis. Fassungslos angesichts der Willkür der Macht nimmt er gewaltsam Rache, flieht in die Berge und gründet mit einigen Ausgestoßenen, Verbrechern und Landstreichern eine Bande.

Dann begegnet Wang-lun dem buddhistischen Mönch Ma-noh, der ihm die Philosophie der Gewaltlosigkeit nahebringt und damit  zu einer neuen, religiös begründeten Lebenseinstellung verhilft. Aus der Diebesbande Wang-luns wird eine Sekte, die jeglicher Gewalt abschwörende Gemeinschaft der ‚Wahrhaft Schwachen‘. Zu deren wichtigstem Grundsatz wird das ‚Wu-wei‘, die Lehre vom Nicht-Widerstreben.

„Nicht handeln; wie das weiße Wasser schwach und folgsam sein; wie das Licht von jedem dünnen Blatt abgleiten.“

Immer stärker wird die stetig wachsende Gruppe zu einer Bedrohung für die Autorität und Macht der kaiserlichen Herrschaft. Schließlich beginnt eine erbarmungslose Verfolgung der ‚Wahrhaft Schwachen‘. Doch auch von innerhalb der Gruppe droht Gefahr: Es gibt Auflösungserscheinungen, ein Teil der Sekte spaltet sich ab. 

Kaiser Khien-lung zweifelt, wie er sich gegenüber der Opposition zu seiner Herrschaft verhalten soll: Einerseits hegt er Sympathie für die buddhistisch fundierte Lehre der Gewaltlosigkeit und Einfachheit, die die ‚Wahrhaft Schwachen‘ predigen; andererseits fürchtet er um seine Macht und den Nachruhm. So geht die Verfolgung der ‚Wahrhaft Schwachen‘ weiter.

Vor der Frage stehend, ob man der eigenen Vernichtung wirklich tatenlos zusehen oder doch zum Schwert greifen soll, entscheidet sich Wang-lun schließlich für letzteres. Er führt nun einen gewaltsamen Widerstand gegen das Militär an und marschiert Richtung Hauptstadt. Doch vor den Toren Pekings wird die Rebellenarmee endgültig besiegt.

Kurz vor seinem Ende reflektiert Wang-lun noch einmal den inneren Konflikt, der sein Leben bestimmt hat, den Widerspruch zwischen einem kontemplativen, friedlichen Erdulden einerseits und dem aktiven, blutigen Kampf für Gerechtigkeit andererseits. Diese dualistische Spannung von Handeln und Nichthandeln aber kann nicht aufgelöst werden, und so schließt der Roman konsequent mit einem großen Fragezeichen:

„Hai-tang blickte weiter in den grünschleppenden Mondschein. Sie setzte sich auf, schob die Schaufeln ihrer Hände über das kalte Gesicht: ‚Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?'“

Ein bahnbrechender Roman

Tatsächlich ist Die drei Sprünge des Wang-lun ein überaus origineller, ja bahnbrechender Roman. Alles ist immer in Bewegung, statt auf individuelle Schicksale legt der Text den Fokus auf großangelegte, beeindruckend choreographierte Massenszenen, wie es sie in der deutschen Literatur zuvor noch nicht gegeben hat. Döblins bilderreiche Sprache vibriert vor Spannung und Sinnlichkeit.

Zugleich hat man beim Lesen jedoch nie das Gefühl, ein bloß erfundenes, westliche Vorstellungen und Sehnsüchte spiegelndes China vor sich zu haben. Und doch verweist die Erzählung natürlich auf das Hier und Heute, auf Döblins Gegenwart am Vorabend der großen Revolutionen und ideologischen, in Gewalt und Barbarei mündenden Konflikte.

Wang-lun wurde gleich bei seinem Erscheinen 1916, nachdem mehrere Verlage den Roman zunächst abgelehnt und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Veröffentlichung verzögert hatten, zu einem respektablen Erfolg. Bis 1923 erlebte das Buch zwölf Auflagen. Zu den Bewunderern des Romans zählte u. a. Bertolt Brecht, der sich nicht nur von dem chinesischen Stoff für sein späteres Stück Der gute Mensch von Sezuan inspirieren ließ. In Döblins polyphoner, teilweise auf Verfremdung zielender Erzählweise fand er überdies Anregungen für seine Konzeption des Epischen Theaters.

Wie außergewöhnlich kraftvoll und modern Döblins Text auch heute noch ist, zeigt der Vergleich mit Stephan Thomes hochgelobtem Roman Gott der Barbaren (2018), der ein ganz ähnliches Thema verhandelt. Neben Döblins frischer und mutiger Virtuosität wirkt der kreuzbrave Realismus Thomes doch eher altmodisch und ein wenig simpel.

Und auch der Stoff hat nichts von seiner Aktualität verloren. Wie man Ungerechtigkeit und Unterdrückung begegnen soll, ob es ein Recht auf aktiven Widerstand gibt oder ob duldsames Ertragen das gebotene Mittel des Protestes ist – diese Frage harrt nach wie vor einer Antwort. Vielleicht, weil sie sich nicht endgültig beantworten lässt.

Alfred Döblin: „Die drei Sprünge des Wang-lun“. Roman. Mit einem Nachwort von Gabriele Sander. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013. 528 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90460-0.

Alfred Döblin: „Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur“. Mit einem Nachwort von Erich Kleinschmidt. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013. 640 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90462-4.

Zu einer Übersicht meines Döblin-Leseprojektes geht es hier.

2 Gedanken zu „„Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?““

  1. Vielen Dank für die Vorstellung samt Einführung. Freu mich schon auf das Wiederlesen. Ich erinnere noch, dass ich »Die drei Sprünge …« vor vielen Jahren recht anstrengend fand, aber ich denke, dass sich das durchaus geändert haben mag.
    Ich lese grad die »November 18« Tetralogie und bin vollkommen begeistert: So frisch, kraftvoll und modern …
    Beste Grüße!

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