Nobelpreisträgerin in Stuttgart

Von links nach rechts: Moderatorin Prof. Dr. Schamma Schahadat (Universität Tübingen), Olga Tokarczuk, Übersetzer Stefan Heck.  © Julian Zündorf

Ein besonderer Abend: Vor 800 Zuhörerinnen und Zuhörern stellte die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in der Liederhalle Stuttgart ihren jüngsten Roman vor. „Die Jakobsbücher“ handeln von einem jüdischen Sektenführer aus dem 18. Jahrhundert.

Olga Tokarczuk tritt nicht zum ersten Mal in Stuttgart auf. Vor fünf Jahren war sie schon einmal zu Gast im Literaturhaus und stellte ihren Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ vor. Etwa vierzig Leute saßen damals im Publikum, erinnert sich Stefanie Stegmann, die Leiterin des Hauses, zu Beginn der Veranstaltung. Polnische Literatur hat es in Deutschland nicht gerade leicht.

Das hat sich nun geändert, zumindest kurzfristig. Nachdem ihr am vergangenen Donnerstag von der Schwedischen Akademie rückwirkend der Nobelpreis des Jahres 2018 zugesprochen worden war, explodierte die Nachfrage für ihre aktuelle Lesung. Die Veranstaltung musste kurzerhand in die benachbarte Liederhalle verlegt werden; im Beethovensaal finden schließlich rund 800 Zuhörerinnen und Zuhörer Platz. Aber die frisch gekürte Preisträgerin ist bescheiden geblieben: Vierzig Literaturbegeisterte wie damals vor fünf Jahren – das sei doch auch nicht wenig, sagt sie lächelnd.

Roman über jüdischen Sektenführer

Olga Tokarczuk hat ihre lange geplante Lesereise durch Deutschland nicht abgesagt, gewissenhaft nimmt sie jeden einzelnen Termin wahr. Am Tag der Bekanntgabe des Preises war sie zu Gast in Bielefeld, vor ihrem Auftritt in Stuttgart hat sie noch eine Stippvisite bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse eingelegt.

Der Roman „Die Jakobsbücher“, mit dem Tokarczuk derzeit durch das Land tourt, hat es in sich, nicht nur des Umfangs von knapp 1200 Seiten wegen. Es handelt sich um einen Historienroman, im Mittelpunkt steht der chassidische Sektenführers Jakob Frank, eine schillernde Figur im ländlichen Polen des 18. Jahrhunderts.

Frank, der eine beachtliche Anhängerschaft hinter sich scharen konnte, hatte die religiöse Emanzipation des Judentums im Sinn. Er vertrat die Lehre, die Juden müssten sich von ihrer talmudischen Tradition lösen und durch die verschiedenen abrahamitischen Religionen gleichsam hindurchgehen, um sich der Moderne zu öffnen. Nach der Konversion zum Islam wandte sich Frank mit seinen Anhängern schließlich einer nicht-orthodoxen, höchst eigenwilligen Form des Katholizismus zu.

Alternatives Geschichtsbild

Neun Jahre hat Tokarczuk an diesem Roman geschrieben, wie sie im Gespräch mit der Moderatorin, der Tübinger Slawistin Schamma Schahadat berichtet. Was fasziniert die Autorin an dem Charismatiker und Scharlatan Jakob Frank? Es ist zum einen das Milieu, der religiöse Schmelztiegel der Provinz Podolien, in dem sich um 1750 zahlreiche Sekten und Weltanschauungen tummeln. Zum anderen versucht der Roman auch, ein alternatives Geschichtsbild des Landes zu entwerfen, das dem tradierten romantischen Ideal der polnischen Nation widerspricht.

Ganz bewusst entwirft Tokarczuk ihre Poetik in Abgrenzung vom polnischen Historienroman der Jahrhundertwende, für den vor allem der Dichter Henryk Sienkiewicz (1846-1916) steht. Dessen von virilem Heldentum durchtränkten Nationalepen versucht die Autorin eine dezidiert diverse und multikulturelle Perspektive entgegenzusetzen. Zahlreiche weibliche Figuren bevölkern daher ihren Roman, nicht wenige Passagen erzählen von brutaler Gewalt an Frauen.

Frauen nicht länger aus der Geschichte ausklammern

Ob sie sich tatsächlich als „dreadlocked feminist“ verstehe, wie die britische Zeitung The Guardian sie nannte, wird Tokarczuk gefragt. Sicher, antwortet die Autorin, sie sehe gerade für den historischen Roman ihre Aufgabe darin, Frauen nicht länger aus der Geschichte auszuklammern und stärker in den Mittelpunkt des Erzählens zu stellen. Doch dürfe ein veränderter, zeitgenössischer Blickwinkel niemals an den Fakten selbst rühren. Es gehe ihr lediglich darum, die Bedeutung derselben zu verändern, wofür sie in ihrer Prosa auch auf zahlreiche surreale und phantastische Stilmittel zurückgreift, die nicht selten an den Magischen Realismus erinnern.

Zuletzt wird die Autorin noch auf ihre politische Rolle angesprochen, auf ihre Opposition zur eben wiedergewählten polnischen Regierung, die sie in der Vergangenheit wiederholt heftig kritisiert hat. Fürchte sie nun, als Nobelpreisträgerin von diesen Leuten vereinnahmt zu werden? Olga Tokarczuk weicht der Frage geschickt aus. Staatspräsident Andrzej Duda habe schon recht, wenn er den vergangenen Donnerstag als „großen Tag für die polnische Literatur“ bezeichnet habe. In den letzten fünfzig Jahren sei der Nobelpreis drei Mal nach Polen gegangen, worauf das Land stolz sein dürfe.

Dem tosenden Schlussapplaus am Ende des Abends nach zu urteilen freut man sich nicht nur in ihrem Heimatland über diese Preisträgerin ganz außerordentlich.

Ein Gedanke zu „Nobelpreisträgerin in Stuttgart“

  1. Hallo,

    ich muss gestehen, vor Verkündung des Preises hatte ich Olga Tokarczuk rein gar nicht „auf dem Schirm“.

    Jetzt habe ich mir aber eines ihrer Bücher in der Onleihe vormerken lassen – einmal auf Englisch („Flights“), einmal auf Deutsch („Unrast), mal schauen, was eher verfügbar ist. Es kann aber noch ein bisschen dauern, bis ich in der Wartliste vorne angekommen bin! Die Nachfrage ist zur Zeit natürlich sehr groß.

    Ihr neustes Werk ist in der Onleihe der Bücherhallen Hamburg noch gar nicht verfügbar, aber ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die Lizenz einkaufen!

    LG,
    Mikka

Kommentar verfassen