Mit Richard Wrights Sohn dieses Landes wurde 1940 zum ersten Mal in der Literaturgeschichte das Werk eines afroamerikanischen Autors zu einem kommerziellen Erfolg. So kraftvoll der Roman auch nach 80 Jahren noch wirkt, seine ästhetischen und ideologischen Schwächen sind unübersehbar.
Es ist eine literarische Sensation: Als der Roman Sohn dieses Landes von Richard Wright (1908-1960) im Jahr 1940 in den USA erscheint, wird das Buch sofort zum Bestseller und deklassiert den bisherigen Spitzentitel, John Steinbecks Früchte des Zorns. Innerhalb von drei Wochen werden 250.000 Exemplare verkauft. Dass ein Roman über eine schwarze Hauptfigur, geschrieben von einem schwarzen Autor, derart erfolgreich sein könnte, hat bis dato niemand für möglich gehalten. Damit erzielt nicht nur der Journalist und Schriftsteller Wright seinen persönlichen Durchbruch. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten überhaupt wird afroamerikanische Literatur von einer großen Öffentlichkeit wahrgenommen und rezipiert.
Gehetzt wie ein wildes Tier
Im Mittelpunkt des Romans steht der junge, arbeitslose Schwarze Bigger Thomas, der mit seinen Geschwistern und der Mutter in einem Chicagoer Slumviertel lebt. Überraschend bekommt er das Angebot, bei einer wohlhabenden weißen Familie als Chauffeur zu arbeiten. Bigger ist ein aggressiver, gehetzter junger Mann voller Selbstzweifel, Misstrauen und Angst. Hoffnung auf eine Zukunft hat er nicht, stattdessen empfindet er grenzenlosen Hass auf „die Weißen“. Bigger nimmt die ihm angebotene Arbeit zwar an, bleibt aber zunächst skeptisch, ob sich sein Leben dadurch wirklich verbessern wird.
Doch zunächst scheint alles aussichtsreich. Mr. Dalton, sein neuer Arbeitgeber, ist ein paternalistischer Philantrop, der sich die Verbesserung der Lebensverhältnisse der schwarzen Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben hat. Er begegnet Bigger bemüht korrekt und vertrauensvoll. Doch schon am ersten Arbeitstag kommt es zur Katastrophe, als Bigger mehr versehentlich und aus purer Angst die betrunkene Tochter Daltons, die Studentin Mary, tötet. Panisch versucht er, ihren leblosen Körper aus dem Weg zu räumen und das Verschwinden des Mädchens ihrem heimlichen Freund, dem jungen Kommunisten Jan, in die Schuhe zu schieben. Fortan fühlt sich Bigger gehetzt wie ein wildes Tier und verrennt sich immer mehr in der Ausweglosigkeit, bis er auch vor einer zweiten Tötung – diesmal ist es eindeutig Mord – nicht mehr zurückschreckt, um seine Tat zu vertuschen.
Roman scheitert als literarisches Kunstwerk
Richard Wright, dessen Bedeutung für die afroamerikanische Literatur im 20. Jahrhundert man kaum überschätzen kann, sah sich nie nur als Schriftsteller. Oder genauer: Er sah seine Aufgabe als Autor gerade darin, scharfe Sozialkritik an der rassistischen Diskriminierung der Afroamerikaner*innen üben und seine Darstellungskraft darauf zu verwenden, die real existierende, zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit in aller Schärfe anzuprangern. Literatur als Selbstzweck, jede Form von L’art pour l’art, war ihm fremd. Das ist zugleich die Stärke seines Werks wie dessen eklatante, in Sohn dieses Landes überdeutlich hervortretende Schwäche. Gewiss, die Wucht, die dieser Text bis heute entfaltet, die Spannung, die er beim Lesen erzeugt, die Unerbittlichkeit, mit der er die alle Lebensbereiche durchdringende Erniedrigung eines großen Teils der US-amerikanischen Bevölkerung benennt, beeindruckt auch heute noch. Und doch ist dieser große Roman als literarisches Kunstwerk zum Scheitern verurteilt.
Das liegt nicht einmal so sehr an dem gelegentlich etwas flachen, heute antiquiert wirkenden Naturalismus – darin folgte Wright nicht weniger als Upton Sinclair oder John Steinbeck einer literarischen Mode. Problematisch ist die Ideologie, die der Autor seinem Text überzustülpen versucht. Denn nirgends wird dem Protagonisten auch nur den Hauch von Individualität und Autonomie zugestanden. Bigger Thomas ist eine Marionette, dessen Fäden von anderen gezogen werden. Für seine Taten ist er nicht verantwortlich und kann er folglich auch keine Verantwortung übernehmen. Wie seine gesamte Persönlichkeit sind seine Handlungen letztlich ausschließlich Produkt einer zutiefst rassistischen Gesellschaft.
Text interpretiert sich selbst
Diese zweifelhafte Sichtweise der Existenz afroamerikanischer Menschen wird zudem – und darin liegt das ästhetische Problem des Textes – nicht erzählerisch dargestellt, sondern dem Leser am Ende durch Figurenrede geradezu aufgezwängt. Der Rechtsanwalt, der Bigger schließlich vor Gericht verteidigt – ein Kommunist und Bekannter von Marys Freund Jan – macht genau diese Unverantwortlichkeit seines Mandanten geltend. Der Text interpretiert sich also selbst, denn das lange Plädoyer des Anwalts wird nirgends mehr infrage gestellt, ergänzt oder gar korrigiert. Hier redet durch die Figur hindurch der Erzähler (und Autor).
Ein zeitgenössischer Leser, der sich schon früh an diesen Mängeln des Romans stieß, war Wrights Schriftstellerkollege und Freund James Baldwin. In seinem 1948 erschienenen Essay Everybody’s Protest Novel kritisierte Baldwin, hier handele es sich eher um ein politisches Pamphlet denn um wirklich gute Literatur. Bigger Thomas sei letztlich nichts weiter als das Zerrbild eines schwarzen Menschen, der seinen Trieben und Instinkten (und damit seinem Schwarzsein) hoffnungslos ausgeliefert sei. Damit würde der Roman rassistische Stereotype eher perpetuieren statt entlarven.
Von historischem Interesse
In Baldwins eigenen Romanen, aber auch in den Werken von Maya Angelou oder dem jüngst wieder auf Deutsch erschienen Roman Die Straße (1946) von Ann Petry begegnen einem dagegen Figuren, die sich mit ihrer an den Rand gedrückten Existenz nicht abfinden wollen, die dem Hass und der Marginalisierung zum Trotz einen Weg der Individualität, Aufrichtigkeit und Selbstverantwortlichkeit suchen und gelegentlich auch finden. Mit anderen Worten, sie versuchen ihr Schwarzsein, ihre Hautfarbe und Identität, zu transzendieren.
Doch auch wenn Richard Wrights berühmtester Roman heute eher von historischem Interesse ist – die Pioniertaten dieses berühmtesten afroamerikanischen Schriftstellers seiner Zeit kann man nicht genug würdigen. Auch James Baldwin hat dies immer anerkannt und betont, sein eigenes Werk wäre ohne Wrights bahnbrechende Leistungen nicht möglich gewesen. Umso schöner also, dass nun auch auf Deutsch eine erstmals vollständige Version von Sohn dieses Landes vorliegt. Die beim Erscheinen sowohl des amerikanischen Originals wie der deutschen Übersetzung als anstößig empfundenden Szenen sind hier enthalten. Yamin von Rauch hat die zuverlässige und nach wie vor frische Übersetzung von Klaus Lambrecht ergänzt und behutsam überarbeitet.
Richard Wright: „Sohn dieses Landes“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Lambrecht. Ergänzt und überarbeitet von Yamin von Rauch. Kein & Aber Verlag, Zürich 2019. 567 Seiten, Hardcover. ISBN 978-3-0369-5795-1.
Es wäre schön, auch etwas über den ersten Übersetzer des Romans, Klaus Lambrecht, zu erfahren. Wer war das?
Eine flüchtige Recherche fördert wenig Detailliertes zutage: 1912 geboren, Übersetzer v.a. einiger Romane von John Steinbeck. Tätig auch als Lektor, Journalist, Literaturagent. Mehr bringe ich auf Anhieb nicht in Erfahrung.