Berühmt geworden ist die us-amerikanische Autorin Jhumpa Lahiri mit Erzählungen und Romanen über Migrationsschicksale und ein Leben zwischen den Welten. Nun hat sie etwas außerordentlich Mutiges gewagt: Einen Wechsel von der englischen zur italienischen Sprache. Ihr neuer Roman – der erste auf Italienisch – erzählt klug und wundervoll poetisch vom Versuch einer weiblichen Selbstfindung.
Es ist ein ungewöhnlicher Vorgang: Eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin wechselt, ohne durch äußere Umstände wie etwa Migration dazu gezwungen zu werden, die Sprache, in der sie schreibt. Und doch ist im Fall der US-amerikanischen Autorin Jhumpa Lahiri (*1967) genau dies geschehen. Im Jahr 2000 wurde die Tochter bengalischer Eltern für ihren ersten Kurzgeschichtenband Melancholie der Ankunft (engl. Interpreter of Maladies) gleich mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, dreizehn Jahre später glückte ihr mit dem Roman Das Tiefland (engl. The Lowland) ein internationaler Bestseller. 2015 dann veröffentlichte sie einen Essay, in dem sie ihre „Liebesgeschichte“ mit dem Italienischen schilderte und zugleich verkündete, künftig nur noch in dieser Sprache schreiben zu wollen (Mit anderen Worten; ital. In altre parole). Nun hat sie ihren ersten Roman auf Italienisch vorgelegt. Das ist zugleich mutig und ein wenig sonderbar.
Risiko des Sprachwechsels
Denn natürlich gibt es in der Literatur immer wieder Sprachwechsler. Es kommt jedoch selten vor, dass Autor*innen dann ebenso erfolgreich sind wie mit dem Schreiben in der Muttersprache. Als Paradebeispiels eines geglückten Wechsels wird gern Vladimir Nabokov (1899-1977) angeführt, der bis zu seinem 40. Lebensjahr in russischer Sprache schrieb und nach seiner Emigration von Europa in die Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkrieges recht problemlos ins Englische überging, das er allerdings, weil zwei- bzw. dreisprachig aufgewachsen, perfekt beherrschte. Für andere vor den Nazis geflüchtete Schriftsteller*innen wie Hilde Spiel, Klaus Mann oder Erich Fried war der erzwungene Sprachwechsel deutlich riskanter und auch problematischer.
Warum also geht Lahiri ohne Not dieses Wagnis ein? Ist es einfach die Lust der etablierten Bestsellerautorin auf das ganz und gar Neue? Oder gibt es doch andere Gründe, über die sich freilich nur spekulieren lässt? Vielleicht gibt der neue Roman ja Hinweise auf die Motivation. Denn auch inhaltlich stellt Wo ich mich finde (ital. Dove mi trovo) einen Bruch mit dem Bisherigen dar. Hier wird nicht mehr, wie in den vorangegangenen Erzählungen und Romanen, von indo-amerikanischen Figuren erzählt, die sich mit ihrem von Migration bestimmten Schicksal auseinandersetzen. Stattdessen stellt Lahiri eine Italienerin in den Mittelpunkt ihres Textes. Die namenlose Ich-Erzählerin, eine Universitätsdozentin Mitte Vierzig, lebt in einer nicht näher bezeichneten italienischen Stadt.
Eine nachdenkliche Außenseiterin
Anhand verschiedener, vertrauter Orte in der Stadt reflektiert sie ihr Leben: Die Einsamkeit der Alleinstehenden; das von Nähe und Distanziertheit gekennzeichnete Verhältnis zu den Eltern; Freunde und Bekannte, die nur wenig Halt geben; flüchtige Affären mit Männern, die nie in dauerhafte Beziehungen münden konnten. Sie ist eine Außenseiterin, nachdenklich und ein wenig scheu:
„Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, doch ich leide darunter.“
Das Leben scheint an ihr vorbeizuziehen, sie ist stille Beobachterin des Glückes anderer. Oft fragt sie sich: Was wäre, wenn? Da ist der Ehemann einer guten Freundin, der sie zu mögen scheint. Ein Abenteuer wäre vielleicht möglich, aber wohin sollte das führen? Da sind die Freunde, die längst Familie und Besitz haben, während sie, die Protagonistin, es nicht einmal zu einer unbefristeten Stelle an der Universität gebracht hat. Mit lakonischem, oft leicht elegischem Blick betrachtet die Erzählerin sich und ihre Umwelt. Doch irgendwann geschieht das Unerwartete (aber vielleicht Unvermeidliche): Plötzlich erwacht in ihr eine Sehnsucht nach Aufbruch, nach Wandel und Wechsel. Sie erhält ein Stipendium für ein Jahr im Ausland, streift ihre Antriebslosigkeit ab und bricht auf, „um die Grenze zu erreichen und zu überschreiten“.
Geschichte spiegelt Schreibsituation der Autorin
Formal verbindet Lahiri hier Roman und Kurzprosa: Wo ich mich finde setzt sich aus knappen, immer nur wenige Seiten langen Abschnitten – Szenen, Episoden, Betrachtungen – zusammen. Inhaltlich lässt sich dieser wunderbar poetische, kluge und melancholische Text als Geschichte einer weiblichen Selbstsuche und -ermächtigung lesen. Man kann ihn aber auch konkreter noch in Bezug setzen zur Schreibsituation der Autorin selbst, die sich von ihrem bisherigen literarischen Blickpunkt, der sich auf die Schicksale indischstämmiger Einwanderer in die USA richtete, vorläufig verabschiedet hat. Warum auch sollten Schriftsteller*innen mit interkultureller Biographie für alle Zeiten darauf festgelegt sein, wieder und wieder nichts als Migrationsgeschichten zu erzählen?
Dann würde diese Geschichte von der Sehnsucht nach Aufbruch, nach einer anderen Existenzweise „jenseits der Grenze“ tatsächlich den Weg Jhumpa Lahiris spiegeln, die ihre bisherige schriftstellerische Identität und Sprache verlässt und gegen etwas Neues, Unbekanntes und vielleicht Riskantes eintauscht. Ob sie sich dort findet? Als Leser will man es hoffen, denn dieser vielversprechende kleine Roman macht neugierig auf alles, was da künftig noch kommen mag.
Jhumpa Lahiri: „Wo ich mich finde“. Roman. Aus dem Italienischen von Margit Knapp. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 160 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-498-00110-0.