In ihrem autobiographischen Buch Der Schmerz erzählt Marguerite Duras von ihrer Zeit im Umfeld der Résistance kurz vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Eindrucksvoll schildert die französische Autorin das qualvolle Warten auf ihren verschollenen Ehemann Robert, aber auch die Folter von NS-Kollaborateuren, an der sie als Mitglied der Widerstandsbewegung beteiligt gewesen ist.
In Frankreich zählt man sie zu den großen Stimmen der Literatur des 20. Jahrhunderts, in Deutschland sieht man in der Schriftstellerin Marguerite Duras (1914-1996) immer noch ein wenig – und sehr zu Unrecht – ein literarisches One-Hit-Wonder. Mitte der achtziger Jahre glückte der Schriftstellerin mit dem Roman Der Liebhaber (1984) ein internationaler Bestseller, der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und von Jean-Jacques Annaud erfolgreich verfilmt wurde. Schon 1959 hatte Duras das Drehbuch zu Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour mit Emmanuelle Riva in der Hauptrolle verfasst, der als Klassiker der Nouvelle Vague gilt.
Ungewissheit wird zur Qual
Gleichwohl gibt es nach wie vor viel zu entdecken in dem riesigen, rund 30 Romane und Erzählbände, dazu dutzende Theaterstücke, Drehbücher und Essays umfassenden Werk der Französin. Die meisten ihrer Texte sind autobiographisch geprägt – heute würde man von Autofiktion sprechen, als sei dies eine Erfindung der Gegenwartsliteratur. Im Liebhaber und in anderen Romanen wie Heiße Küste (1950) erinnert sich Duras an ihre Kindheit und Jugend in Französisch-Indochina, wo sie als Tochter eines Lehrerehepaares zur Welt kam. Die Familie verarmte völlig, mit siebzehn Jahren ging Duras schließlich zum Studium nach Paris.
Auf eigenem Erleben beruht auch Der Schmerz aus dem Jahr 1985, worin sie ihre Zeit im Umfeld der Resistance kurz vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Paris reflektiert. Das Buch wird als Roman vermarktet, tatsächlich handelt es sich jedoch um sechs unterschiedlich lange Erzählungen, die teilweise auf Tagebuchaufzeichnungen beruhen und deren längste und wichtigste dem Band den Titel gibt. In diesem Text schildert die Erzählerin – die wohl mit der Autorin identisch ist – das Warten auf ihren in einem deutschen Konzentrationslager verschollenen Mann Robert L., einem Mitglied der Widerstandsbewegung (in Wirklichkeit Robert Anthelme, der erste Ehemann von Duras).
Ungebrochener Hass
Es ist April ’45, der Krieg ist so gut wie vorbei. Die Alliierten haben Frankreich befreit, Nazi-Deutschland wird von zwei Seiten aufgerollt. Immer mehr überlebende Gefangene kommen frei und kehren zurück – aber auch Robert L.? Mit anderen wartenden Frauen findet sich die Erzählerin täglich an den offiziellen Aufnahmestellen ein. Die Ungewissheit wird zur Qual, immer neue Berichte über die Gräuel in den deutschen Lagern finden Verbreitung, es gibt Gerüchte über Erschießungen von Gefangenen durch deutsche Wachmannschaften in buchstäblich letzter Minute. Der Hass auf die Deutschen, auf den Feind, ist ungebrochen. Moral und Gerechtigkeit sind leere Begriffe geworden.
„Ein kriegsgefangener Priester hat ein deutsches Waisenkind mit ins Auffanglager gebracht. Er hielt es an der Hand, er war stolz darauf, er zeigte es, er erklärte, wie er es gefunden hatte, daß es nicht die Schuld dieses armen Kindes sei. Die Frauen sahen ihn böse an. Er maßte sich das Recht an, schon zu verzeihen, schon zu vergeben. Er hatte keinen Schmerz, kein Warten gekannt. […] Wovon sprach er also? Nie ist ein Priester so ungebührlich aufgetreten. Die Frauen wandten die Blicke ab, sie spuckten auf das strahlende Lächeln der Milde und der Klarheit. Beachteten das Kind nicht. Alles entzweite sich. Blieb auf der einen Seite die Front der Frauen, kompakt, unnachgiebig. Und auf der anderen Seite dieser Mann, allein, der in einer Sprache recht hatte, die die Frauen nicht mehr verstanden.“
Taumeln zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Einzige Stütze der Erzählerin ist ihr Freund D., ebenfalls ein Mitglied der Resistance. Sie taumelt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Irgendwann weiß die Protagonistin nicht mehr, ob sie wirklich möchte, dass ihr Ehemann heimkehrt. Eigentlich will sie nur noch, dass das Warten und die Ungewissheit ein Ende nehmen. In die persönliche Niedergeschlagenheit mischt sich immer wieder das Entsetzen über die Ausmaße der deutschen Verbrechen, das Versagen jeglicher Humanität: „Wir gehören zu jener Seite der Welt, wo die Toten in einem unentwirrbaren Leichenhaufen übereinandergestapelt sind. Und das geschieht in Europa. Dort verbrennt man die Juden, zu Millionen. Dort beweint man sie.“
Dann plötzlich ist es doch so weit. Es gibt Nachricht von Robert, Freunde von ihm haben ihn im befreiten KZ Dachau aufgespürt. Sie bringen ihn nach Paris, mehr tot als lebendig. Seine Frau erkennt den zum Skelett Abgemagerten kaum wieder, doch Robert kommt langsam wieder zu Kräften und entrinnt dem scheinbar sicheren Tod. Aber es ist nichts mehr wie vorher: Die Erzählerin muss ihm gestehen, dass ihre Ehe keine Zukunft hat. Längst ist sie mit dem gemeinsamen Freund D. zusammen, den sie heiraten möchte. Robert versteht, er fügt sich. Man hat ihm das Leben nicht nehmen können – und doch hat es sich für immer verändert.
Brüchige Humanität
Die übrigen fünf, deutlich kürzeren Erzählungen sind nicht ganz so fulminant wie Der Schmerz – aber immer noch außerordentlich eindrucksvoll. In Monsieur X, hier Pierre Rabier genannt etwa schildert die Erzählerin die Ereignisse unmittelbar nach der Gefangennahme ihres Mannes. Sie sucht den Kontakt zum Gestapomann Rabier, der Robert verhaftet hat, um an Informationen über dessen Aufenthalt zu gelangen. Rabier erweist sich als äußerst freundlich, er verspricht der Erzählerin, sie mit Details zu versorgen und trifft sich immer wieder mit ihr. Eine Art Vertrautheit entsteht zwischen den beiden – sie will alles tun, um das Schicksal ihres Mannes zu erfahren; Rabier sucht einfach die Gesellschaft der attraktiven Frau und hält sie hin. Irgendwann begreift die Erzählerin: Dieser Mensch ist unendlich einsam, sie ist sein einziger wirklicher Kontakt zur Außenwelt, denn seine Tätigkeit als Denunziant hat ihn aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Fast regt sich in ihr so etwas wie Mitleid mit ihm.
In Albert vom Capitales dagegen wird nach der Befreiung von Paris im November ’44 die Gefangennahme eines NS-Kollaborateurs durch die Resistance geschildert. Der Mann hat Juden und Widerstandskämpfer verraten und dem sicheren Tod ausgeliefert. Die Protagonistin – hier Thérèse genannt – beteiligt sich an seiner Folter. Um die Preisgabe kaum relevanter Informationen wird der Verräter fast totgeschlagen.
In all diesen Texten wird gezeigt, was der Krieg mit den Menschen und ihren Überzeugungen, Idealen und Werten macht, wie rasch der vermeintliche Schutzmantel der Humanität porös wird und wie schwierig es ist, eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse aufrecht zu erhalten. In Windeseile kann sich die Position moralischer Überlegenheit ins glatte Gegenteil verkehren.
Der unverwechselbare Duras-Sound
Was diese Texte neben ihrer historischen Wahrhaftigkeit auszeichnet, ist die Sprache der Autorin. Es gibt einen spezifischen Duras-Sound, der unverwechselbar und einzigartig ist. Ihre Prosa ist nüchtern und lakonisch, auffallend schlicht und grundiert von leiser Melancholie. Stilistisch erinnern ihre Texte manchmal an Camus, doch vom Existanzialismus mit seinem philosophischen Überbau hat sie sich immer ferngehalten, wie auch von anderen Strömungen des literarischen Zeitgeistes wie dem nouveau roman. Ihr Stoff ist das eigene Leben, in dem sich die europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts mit all ihrer abgrundtiefen Schwärze und dem gelegentlich aufleuchtenden Glanz spiegelt. Diese Literatur kümmert sich nicht um Beständiges, um absolute Wahrheiten oder ewige Gültigkeit; stattdessen hält sie das Schwankende, Flüchtige, Unbestimmte der menschlichen Existenz fest – und widersteht gerade dadurch der Zeit.
„Das Geschriebene kommt wie der Wind, es ist nackt, es ist Tinte, es ist das Geschriebene, und es geht vorüber, wie nichts anderes im Leben vorübergeht, nichts weiter, außer das Leben.“
Marguerite Duras: „Der Schmerz“. Roman. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 208 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-8031-2746-4.