Die 35. Baden-Württembergischen Literaturtage – Teil II

© Stadt Ludwigsburg

Der zweite Teil meines Berichts über die 35. Baden-Württembergischen Literaturtage wartet mit einer Langen Kriminacht auf, folgt dem Flaneur Joseph Roth durch Paris und zeigt, wie düster sich die Science-Fiction die Zukunft unserer Metropolen ausmalt.

Zu Teil I geht es hier.

„Der Kriminalroman ist der dunkle Bruder der Aufklärung“, erklärte Kurator Matthias Göritz zu Beginn der Langen Kriminacht bei den 35. Baden-Württembergischen Literaturtagen. Und in der Tat geht es in diesem Genre ja nicht nur um die Aufdeckung von Verbrechen, sondern immer auch um die Auflösung des Chaos und die Wiederherstellung von Ordnung.

Krimi und Großstadt gehören zusammen

Drei renommierte deutsche Krimiautoren hatte man eingeladen. Moderiert wurde die Veranstaltungen vom Literaturkritiker Tobias Gohlis, dem deutschen „Krimi-Papst“, der unter anderem eine Kolumne in der ZEIT schreibt und die Krimibestenliste initiiert hat. Gohlis machte, um das gleich zu Beginn zu sagen, seine Sache großartig, lenkte mit klugen Fragen und Einwürfen die Gespräche, und hielt sich da zurück, wo es angebracht war. Krimi und Großstadt – das gehört laut Gohlis einfach zusammen. Der Moderator zitierte eingangs G. K. Chesterton (1874-1937), Autor der Father Brown-Geschichten, der über den Kriminalroman sagte, er sei „die einzige Form volkstümlicher Literatur, die das moderne Leben abbildet“.

Dann betrat auch schon Volker Kutscher (*1962) die Bühne. Der Kölner Journalist und Schriftsteller hat, wie Gohlis treffend bemerkte, „einen Lauf“ – seine historischen, im Berlin der 20er und 30er Jahre spielenden Krimis um den Ermittler Gereon Rath werden momentan aufwendig verfilmt. Die ARD-Serie Babylon Berlin ist die teuerste nicht-amerikanische Produktion aller Zeiten. Und von der Taschenbuchausgabe des ersten Teils der auf zehn Bände angelegten Reihe, Der nasse Fisch, ist aktuell die 60. (!) Auflage im Handel.

© Kiepenheuer & Witsch Verlag

Kutscher las zunächst aus seinem zuletzt veröffentlichten Roman Lunapark, dem sechsten Rath-Fall (in diesen Tagen erscheint Nummer 7, Marlow), der im Jahr 1934 spielt. Die Diktatur ist mittlerweile etabliert. Hier und da wird zwar noch über die neuen Herrscher gemurrt, und nach wie vor besteht die vage Hoffnung, Reichspräsident Hindenburg werde Hitler wieder entmachten und durch eine konservative Regierung ersetzen. Mit der Weimarer Demokratie ist es aber unwiderruflich vorbei. Kommissar Rath muss in dieser unsicheren Atmosphäre mehrere Morde an SA-Männern aufklären und gerät dabei nicht nur mit der Terrortruppe der Nazis, sondern auch mit der Geheimen Staatspolizei in Konflikt.

Warnung vor der Gleichgültigkeit

Es ist die Mischung aus Hardboiled-Krimi und historischem Roman, die Kutschers Bücher so erfolgreich macht. Angesprochen auf Parallelen unserer Gegenwart zur Endphase der Weimarer Republik winkte er jedoch ab: Geschichte wiederhole sich nicht. Die Geschichtsvergessenheit allerdings könne gefährlich werden, denn jede Demokratie sei fragil. Wenn Freiheiten für selbstverständlich gehalten werden und sich Gleichgültigkeit, ja Desinteresse am politischen Diskurs ausbreite, müsse eine Gesellschaft auf der Hut sein.

© Rowohlt Verlag

Ganz anders als Kutschers Romane sind die Bücher von Jan Seghers (*1958). Seine Krimis spielen in der Gegenwart, sechs Romane hat er bislang über den Frankfurter Ermittler Robert Marthaler veröffentlicht. Seghers bekennt sich zu einem schonungslosen Realismus. Literarische Texte sollen, erklärte er, „Nachrichten aus der Wirklichkeit“ sein. Deshalb greift er reale Fälle auf, recherchiert genau in Fallakten und spricht mit Prozessbeteiligten. Sein jüngster Roman Menschenfischer ist an den bis heute ungeklärten, bestialischen Mord am 13jährigen Tristan Brübach angelehnt, der 1998 Frankfurt und die ganze Republik entsetzte.

© Kiepenheuer & Witsch Verlag

Tom Hillenbrand (*1972), der Dritte im Bunde, ist Verfasser mehrerer Science-Fiction-Krimis. Sein Thriller Hologrammatica spielt in einer komplett digitalisierten Zukunft, in der man nicht nur nicht mehr weiß, welche Gegenstände noch wirklich und welche projiziert sind, sondern in der es auch möglich ist, das Gehirn eines Menschen in einen neuen Körper zu uploaden. Auf die Frage nach den tatsächlichen Gefahren und Chancen der Zukunft antwortete Hillenbrand, angesichts der kommenden Herausforderungen durch Genetik und Bio-Design werden wir uns noch nach Problemen wie ‚Fake News‘ zurücksehnen.

Das Glück der Recherche

Im Anschluss gab es dann noch eine Schlussrunde mit den drei Autoren, die mehr Verbindendes als Trennendes aufzeigte. Kutscher und Seghers betonten, wie wichtig stimmungsvolle Orte als erste Inspiration für ihr Schreiben seien, und alle drei schwärmten vom „Glück der Recherche“, bei der sich oft aus den zufälligen Funden die besten Einfälle ergeben würden.

Zuletzt sprach Moderator Gohlis noch das berühmte Diktum des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) über den Kriminalroman an, wonach dieser grundsätzlich verlogen sei. Die Welt sei derart chaotisch und katastrophal, dass die vom Genre geforderte Wiederherstellung der Ordnung etwas vorgaukeln würde, was in der Realität schlicht unmöglich wäre. Alle drei Autoren stimmten dem zu. Die Welt werde trotz der Aufklärung von Verbrechen nicht besser, der grundsätzliche Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit bleibe unauflösbar. Die Aufgabe der Krimi-Literatur sei es jedoch, genau solche Diskrepanzen darzustellen und immer wieder neu zu beleuchten.

Paris als Inbegriff der Metropole

Den Höhepunkt der Literaturtage in Ludwigsburg stellte für mich der wunderbare Vortrag Von Städten und Flaneuren dar. Jan Bürger, Autor und stellvertretender Leiter der Handschriftensammlung im Literaturarchiv Marbach, referierte über den großen Erzähler und Journalisten Joseph Roth (1894-1939). Dessen Artikel und Briefe aus seiner Zeit als Korrespondent für die Frankfurter Zeitung (1925-26) und später als jüdischer Flüchtling vor dem Nationalsozialismus (ab 1933) hat Bürger gesammelt und veröffentlicht. Paris war damals, betonte Bürger, die „Stadt an sich“, der Inbegriff der Metropole, mit der sich auch das aufregende Berlin der 20er Jahre nicht messen konnte. Für einen leidenschaftlichen Großstädter wie Roth der ideale Ort.

Seit der berühmten Definition des Aristoteles, der vom „zoon politikon“, vom Lebewesen, das in Städten lebt, sprach, begreift sich der Mensch als Stadtbewohner. Urbanität gehört zu unserem Selbstverständnis. Das Phänomen des Flanierens dagegen ist relativ jung, wie Bürger erläuterte. Es ist ein Produkt des sogenannten „langen 19. Jahrhunderts“, jener umwälzenden Modernisierungsphase zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit explodieren die Städte regelrecht, wie Bürger am Beispiel Hamburgs zeigte, das im Jahr 1842 noch 140.000 Einwohner zählte und sich knapp siebzig Jahre später, anno 1910, mit 930.000 Einwohnern zur am dichtesten besiedelten Metropole Europas aufgebläht hatte.

Gegenentwurf zum Paris-Bild Rilkes

Joseph Roth ist fasziniert von der Atmosphäre des modernen Paris, von der Multikulturalität und Freiheit, über die er zum Ärger seiner Zeitung ausführlicher berichtet als über politische oder wirtschaftliche Ereignisse. Seine Texte stellen dabei, betonte Bürger, einen Gegenentwurf zum Paris-Bild Rainer Maria Rilkes (1875-1926) dar, der in seinem berühmten Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) die Stadt von ihrer bedrohlichen und verstörenden Seite gezeigt hat.

Schnell ist Roth seinen Job als Paris-Korrespondent wieder los, 1926 wird er nach nur einem Jahr durch Friedrich Sieburg ersetzt, der später Mitläufer des NS-Regimes wird und nach dem Krieg als Literaturchef bei der F.A.Z. reüssiert. Paris lässt Roth jedoch nicht los. 1933 erkennt er früher als manch anderer, worauf die Nazi-Diktatur unweigerlich hinausläuft und flieht rechtzeitig in die französische Hauptstadt. Dort verfällt er mehr und mehr dem Alkohol, lebt in verschiedenen Hotels und schreibt trinkend oder trinkt schreibend bis zu seinem frühen Tod im Café Tournon, dem Zentrum der Pariser Emigrantenszene.

© C. H. Beck Verlag

Roths Paris-Texte sind kleine literarische Kostbarkeiten. Er schreibt sinnlich und intensiv, zugleich aber mit absoluter Klarheit und Präzision – erstaunlich für einen so alkoholkranken Menschen. Deshalb möchte ich das von Jan Bürger herausgegebene Buch Pariser Nächte. Feuilletons und Briefe jedem Paris-Fan und Roth-Bewunderer und überhaupt allen Lesenden unbedingt empfehlen.

 

Zukunft der Stadt als Dystopie

Die letzte Veranstaltung, die ich bei den Literaturtagen besucht habe, war dann ganz der Zukunft gewidmet. Andreas Friedrich, Wissenschaftler an der Filmakademie in Ludwigsburg, hielt einen Vortrag unter dem Titel Brave New Cities, bei dem es um die Darstellung von Architektur und Stadtentwicklung im Science-Fiction-Film ging. Filme (und auch Bücher) dieses Genres entwerfen von der Zukunft ja oftmals kein positives Bild, sondern zeigen verschiedenste Arten von Dystopien. Friedrich macht vier grundlegende Themen und Motive aus, die stetig wiederkehren.

Häufig wird die Zukunft als faschistoides System entworfen, das von kolossaler Architektur geprägt ist. Filme wie 1984 (1984, Regie: Michael Radford), Equilibrium (2002, R: Kurt Wimmer) oder The Hunger Games (2012, R: Gary Ross) zeigen ausladende Versammlungsplätze für Paraden und Massenkundgebungen, und orientieren sich dabei an der Architektur der Nationalsozialisten, wie etwa dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Die monumentalen Bauten und die riesigen Bildschirmwände, von denen permanent Propaganda und Fake News auf die Untertanen herabrieseln, dienen der Stabilisierung des Systems und der Selbstversicherung der Despoten. Zugleich aber versinnbildlichen sie auch das permanente Misstrauen der Herrscher, die immer und überall ein Auflodern von Widerstand gegen ihre Diktatur fürchten müssen.

Streben nach Perfektionierung und klaren Hierarchien

Ein zweites Motiv sieht Friedrich in einer von ihm so genannten“kühlen Eleganz der Effizienz„. Die futuristische Stadt wird beispielsweise in Logan’s Run (1976, R: Michael Anderson) oder Gattaca (1997, R: Andrew Niccol) als paradiesisches Arkadien gezeigt; die Gebäude ähneln oft riesigen Einkaufszentren. In dieser kalten Architektur erscheint das Individuum deplaziert und verloren; die Bauweise spiegelt das Streben nach glättender Perfektionierung (etwa durch genetische Manipulation) und klaren Hierarchien.

Postapokalyptische Szenarien, denen man etwa in 12 Monkeys (1995, R: Terry Gilliam), I am Legend (2007, R: Francis Lawrence) oder dem Klassiker Planet oft the Apes (1968, R: Franklin J. Schaffner) begegnet, zeigen dagegen oftmals, so Friedrich, ein „Zurück zur Natur„. Im Anschluss an den durch die Hybris des Menschen verursachten Zusammenbruch der Zivilisation erobert sich die Natur in Windeseile ihr Territorium zurück. Straßen werden von Pflanzen überwuchert, Wolkenkratzer stürzen in sich zusammen, in den verlassenen Häuserschluchten jagen Wildtiere ihre Beute.

Das vierte und letzte wichtige Motiv sieht Friedrich im Übergang „von der Modellstadt zum Moloch„. In Filmen wie Metropolis (1922, R: Fritz Lang), Le Cinquième Élément (1997, R: Luc Besson) oder Dredd (2012, R: Pete Travis) wird die einst so verheißungsvolle Stadt der Zukunft als von Dreck, Verrohung und Gewalt geprägter Ort gezeigt, an dem alle Hoffnungen längst zerstoben sind.

Stilbildender SF-Klassiker

Ein solches Szenario entwirft auch der SF-Klassiker Blade Runner (1982, R: Ridley Scott), dessen Final Cut im Anschluss an den Vortrag gezeigt wurde. In dieser Verfilmung eines Romans von Philip K. Dick geht es um den Polizisten Rick Deckard, gespielt von Harrison Ford am Anfang seiner Karriere. Ein desaströser Atomkrieg hat stattgefunden. Viele Überlebende sind anschließend auf andere Planeten ausgewandert, die von sogenannten Replikanten – humanoiden Robotern – für die Menschheit erschlossen worden sind. Einige dieser Replikanten sind aus ihrer Knechtschaft geflohen und auf die Erde gelangt. In einem postapokalyptischen, überbevölkerten L. A., in dem ständige Dunkelheit herrscht, macht Deckard Jagd auf die Androiden.

Der Film besticht immer noch durch seine ganz eigene, vom Film Noir beeinflusste Ästhetik und hat auf das Science-Fiction-Genre so stilbildend gewirkt wie vor ihm vielleicht nur Fritz Langs Metropolis und Kubricks 2001. Er stellt die Frage nach den Grenzen des Menschlichen in einer von Künstlicher Intelligenz überwältigten Welt, nach der Funktion von Moral und Gefühlen im Zeitalter technologischer Revolutionen. Ein Meisterwerk des Cyberpunk, das auf der großen Leinwand besonders eindrucksvoll wirkte.

Damit gingen die Literaturtage für mich zu Ende. Viele Anregungen habe ich dort erhalten und manche neue Einsicht in die unerschöpfliche Vielfalt und Fülle der Literatur gewonnen. Ein insgesamt schönes und gelungenes Ereignis, das noch mir lange in Erinnerung bleiben wird.

Besondere Lese-Empfehlung:
Joseph Roth: „Pariser Nächte. Feuilletons und Briefe“. Herausgegeben von Jan Bürger, München 2018. 144 Seiten, Klappenbroschur. ISBN 978-3-406-72631-6.

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