Das ewige Grauen des Krieges

© S. Fischer Verlag

In seinem monumentalen Historienroman Wallenstein zeigt sich Alfred Döblin ganz auf der Höhe seiner erzählerischen Meisterschaft. Der Dreißigjährige Krieg wird hier nicht als Religionskonflikt geschildert, sondern als Folge skrupelloser Macht- und Finanzinteressen, die halb Europa in den Abgrund reißen. Damit zieht Döblin eine Parallele zum Ersten Weltkrieg, den er als Feldarzt hautnah miterlebt.

Nach seinem zweiten Roman, der grotesken Kapitalismus-Satire Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine, hat Alfred Döblin vorerst genug von der lärmenden, hektischen Großstadt Berlin und allen technologischen Errungenschaften. Das Projekt einer Fortsetzung zum Wadzek legt er bald auf Eis. Ein neuer literarischer Topos muss her, der Autor will sich neu erfinden, wieder einmal.

Die wahnwitzige Gegenwart, das heißt der fürchterlich tobende Krieg, den er als Feldarzt miterlebt, bedrängt ihn. Also zieht es Döblin in die Vergangenheit, zu einem historischen Stoff, in dem sich dieses außer Rand und Band geratene frühe 20. Jahrhundert spiegeln kann. Doch kein exotisches Szenario wie in seinem ersten großen Roman Die drei Sprünge des Wang-lun soll es diesmal werden. Stattdessen reizt den Autor ein Thema aus der deutschen Geschichte, aus der frühen Neuzeit mit ihren besonders grausamen, ideologischen Konflikten. Eine Zeit lang befasst er sich mit den Bauernkriegen, doch bald schon stößt er auf einen Stoff, der ihn weit mehr fasziniert.

Kreativer Impuls während der Kur

Psychisch überlastet durch die schreckliche Arbeit im Lazarett und geplagt von einem chronischen Magenleiden wird Döblin im Sommer 1916 auf Kur geschickt, er darf für einige Wochen ins beschauliche Bad Kissingen in Unterfranken reisen und ein wenig Erholung suchen. Tatsächlich kommt er hier zur Ruhe, sein Gesundheitszustand bessert sich, und außerdem erhält seine schriftstellerische Kreativität hier endlich einen entscheidenden Impuls.

Zufällig stößt Döblin auf eine Zeitungsannonce zu den sogenannten ‚Gustav-Adolf-Festspielen‘, die hier alljährlich ausgetragen werden. Das Spektakel, das zu Ehren des Schwedenkönigs stattfindet, der während des Dreißigjährigen Krieges als Verteidiger des Protestantismus auftrat, fasziniert Döblin. Nicht wegen des plumpen Nationalismus der Veranstaltung – aber die Parallelen des bislang blutigsten aller europäischen Kriege zum Gemetzel der Gegenwart liegen auf der Hand.

Der Dreißigjährige Krieg von 1618-1648 ist bis dato die verheerende Katastrophe der deutschen Geschichte schlechthin, annähernd 40% der Bevölkerung des deutschen Reichsgebietes fallen den Kampfhandlungen und Seuchen jener Jahre zum Opfer. Erst Hitlers Weltanschauungskrieg wird ein vergleichbares Trauma hervorrufen.

Während des Ersten Weltkrieges erinnert man sich oft an das Blutbad im frühen 17. Jahrhundert, es ist tief verankert im kulturellen Gedächtnis Deutschlands: Der berühmteste deutsche Barockroman, Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus (1668), spielt während des Dreißigjährigen Krieges, und Friedrich Schiller hat dem Krieg sowohl eine historische Abhandlung als auch seinen umfangreichsten Dramentext, die Trilogie Wallenstein (1799), gewidmet.

Weder Biographie noch Heldenepos

Auch Döblin nimmt den Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee in den Blick, diese ambivalente historische Gestalt, die erst loyal zu Ferdinand II. steht und sich schließlich im eigenen Machtrausch gegen seinen Herren wendet und untergeht. Aber er will keine Biographie schreiben und auch kein Heldenepos. Im Grunde fesselt Döblin nicht so sehr die Person Wallenstein als solche, auch nicht der Dreißigjährige Krieg, den er später einmal eine „trostlose, öde Sache mit vielen Schlachten, vielen Gegnern“ nennt. Er möchte den außer Kontrolle geratenen Krieg per se darstellen, die Mechanismen, die ihn erzeugen und am Laufen halten. Wie funktioniert eine so gewaltige kriegerische Auseinandersetzung, wie gestaltet sich ihr Verlauf?

Am historischen Wallenstein interessiert Döblin primär seine Komplexität, seine Exzentrik und moralische Ambiguität. Mehr aber noch interessiert ihn der Konflikt zwischen dem Feldherrn und dem Kaiser, der im Text konsequent ‚Ferdinand der Andere‘ genannt wird – eine altertümliche Bezeichnung, die zugleich auf seine Rolle als Antipode Wallensteins im Romangeschehen verweist. Der Monarch ist ein hoffnungslos Getriebener, der im Verlauf des Krieges, ermüdet und geschwächt durch zahllose Intrigen von Gegnern und Verbündeten, resigniert und sich seinen mystischen Neigungen hingibt. Wallenstein dagegen erscheint als moderner, strategisch denkender und handelnder Militärpolitiker, der seine Feinde nicht nur mit Armeen, sondern vor allem mit Verstand und List bekämpft – und dennoch scheitert.

Der Handlungszeitraum des Romans umfasst die wesentlichen Etappen der ersten Hälfte des Krieges, er beginnt kurz nach der Schlacht am Weißen Berg (8. November 1620) und endet einige Zeit nach dem Tod Wallensteins im Frühjahr 1634. Döblin folgt in seinem Text zwar der Chronologie der Ereignisse, verzichtet aber auf jegliche Angabe von Jahreszahlen. Doch so penibel sich Döblin in Details auch an die historischen Fakten hält, er will keinen historischen Roman im überkommenen Sinne schreiben, es geht ihm nicht um eine kohärente Deutung des Geschehens.

„Der Roman hat mit Handlung nichts zu tun“

Wieder einmal schreibt der Autor parallel zur Entstehung seines Romans eine kleine Poetologie. In seinen Bemerkungen zum Roman (1917) wendet er sich – wie immer polemisch und spitz im Ton – gegen die Orientierung des zeitgenössischen Romans an der dramatischen Form, die alles Gewicht auf eine fortschreitende Handlung lege:

„Der Roman hat mit Handlung nichts zu tun; man weiß, daß im Beginn nicht einmal das Drama damit etwas zu tun hatte, und es ist fraglich, ob das Drama gut tat, sich so fest zu legen. Vereinfachen, zurechtschlagen und -schneiden auf Handlung ist nicht Sache des Epikers. Im Roman heißt es schichten, häufen, wälzen, schieben; im Drama, dem jetzigen, auf die Handlung hin verarmten, Handlungsverbohrten: ‚voran!‘ Vorwärts ist niemals die Parole des Romans.“

Statt kausaler Zusammenhänge müsse der Roman, gerade auch der historische, lediglich Abläufe darstellen. Damit grenzt sich Döblin zugleich von Schiller ab. Dieser will in seinem Wallenstein den Titelhelden psychologisch erklären und porträtiert ihn als tragischen Helden nach dem Vorbild Shakespeares, der wie Hamlet im entscheidenden Moment zu lange zögert und dadurch untergeht.

Die Aufgabe eines historischen Romans sieht Döblin eben nicht darin, das Chaos der Wirklichkeit zu ordnen, zu sortieren und dann wie in Gießharz zu konservieren. Will man sich als Schriftsteller (nicht als Historiker) der Vergangenheit wirklich nähern, so darf man sie nicht ihrer Irrationalität berauben, sondern hat sie mit literarischen Mitteln in all ihrer Unübersichtlichkeit und Unordnung darzustellen.

Skrupellose Macht- und Finanzpolitik

Warum etwas geschieht, welche Motive es für bestimmte Handlungen gibt – das ist sekundär. Wussten die Kriegsführer, die Militärs und Politiker überhaupt, was sie taten? Waren die einzelnen Episoden, die kurzfristigen Bündnisse, Rivalitäten und Intrigen einem übergeordneten Plan verpflichtet wie die Züge von Schachspielern? Nein, im Krieg verselbständigen sich die Episoden, alles verliert sich in Kleinteiligkeit. Wut und gegenseitiger Hass der Akteure sind signifikanter als die im Nachhinein zu Wendepunkten erklärten Schlachten.

Konsequent verweigert sich Döblins Text daher auch der üblichen Deutung des Dreißigjährigen Krieges als Religionsfehde zwischen Protestanten und Katholiken. Stattdessen versteht er den Konflikt als „Privatsache der Dynastien“, wurzelnd in der skrupellosen Macht- und Finanzpolitik der europäischen Herrscherhäuser.

Stilistisch und erzähltechnisch befindet sich Döblin in seinem Wallenstein auf der Höhe seiner Kunst, die Sprache ist ungemein farbig und opulent. Szenen höfischen Lebens und die grausam detailreichen Schilderungen von Gewaltexzessen wechseln einander ab und verweisen aufeinander. Gleich im Eingangskapitel des Romans etwa wird ein Bankett anlässlich einer gewonnenen Schlacht am Kaiserhof gegeben, und unversehens geht die Metaphorik des Festmahls in die des Gemetzels über:

„Die Hühner sind erschlagen; auf Silberschüsseln gebahrt; von feinen weißen Kerzen beleuchtet […] prächtig zerhiebene Pfälzerleichen, Rumpf ohne Kopf, Augen ohne Blicke, Karren, Karren voll Leichen, eselgezogen, von Pulverdunst und Gestank eingehüllt“

Wie schon in seinen beiden vorangegangenen Romanen Wang-lun und Wadzek zieht Döblin auch für dieses Werk wieder eine Unmenge an Quellen zu Rate. Doch bei allem Faktenreichtum nimmt sich der Autor auch dichterische Freiheiten, besonders bei der Gestaltung seiner Figuren. Ganz bewusst vermischt der Text Historie und Mythos, ja sucht die Grenze zwischen diesen Konzepten gezielt zu verwischen. Wallenstein selbst etwa wird im Roman als „ein gelber Drache, aus dem böhmischen blasenwerfenden Morast aufgestiegen“ bezeichnet.

„Vielleicht ist etwas von der furchtbaren Luft in ihm“

Döblin schreibt seinen Roman während seines andauernden Militärdienstes: „Nachmittags und abends konnte ich schreiben, – natürlich gestört durch Dienstpflichten – und von der Gefahr durch Luftangriffe bedroht. […] Vielleicht ist etwas von der furchtbaren Luft, in der das Buch entstand, Krieg, Revolution, Krankheit und Tod in ihm.“ Anfang 1919, kurz nach dem Ende des Krieges, schließt Döblin seine bisher umfangreichste Arbeit ab.

Das Ende des Romans ist so trostlos wie prophetisch. Nach dem Tod der beiden Hauptfiguren, des Gegensatzpaares Ferdinand und Wallenstein, geht das Gemetzel unvermindert weiter. Das Grauen des Krieges – es will nicht enden.

„Unter die aufmarschierenden Heere der Kaiserlichen Sachsen Schweden Bayern gerieten von allen Seiten die losgelösten verzweifelten Volksteile […] Was ihnen störend in den Weg kam, zerklatschten die Heere. Die Söldnermassen selbst brachen gegeneinander los, schlugen sich nieder, verfolgten sich, metzelten sich von neuem, Kaiserliche Sachsen Schweden Bayern. Im Westen hatten sich die Welschen gesammelt. Sie warteten in frischer Kraft auf ihr Signal, um sich hineinzuwerfen.“

Wallenstein erscheint im Oktober 1920 in einer zweibändigen Ausgabe und wird überwiegend positiv aufgenommen. Es gibt aber auch kritische Stimmen. Bertolt Brecht etwa, der die vorangegangenen Romane noch gefeiert hatte, zeigt sich enttäuscht. Ihm fehlt eine eindeutige ideologische Positionierung des Textes, der Fokus des Erzählens auf die Heerführer und Monarchen missfällt ihm ebenso wie die barocke Erzählweise.

Wallenstein setzt Maßstäbe für historisches Erzählen

Auch Döblin ist nicht zufrieden. Die enorme Mühe, die er in dieses Buch gesteckt hat, die erzählerischen und stilistischen Neuerungen, mit denen er das verstaubte Genre des historischen Romans zu bereichern suchte, werden ihm nicht genug gewürdigt. Er wirft den Rezensenten eine nur oberflächliche Lektüre seines Romans vor.

Und bald darauf erscheinen die autobiographisch geprägten Kriegsbücher, die das Grauen des Ersten Weltkriegs nicht im Gewand eines historischen Stoffes verarbeiten, sondern realistisch und direkt die Wirklichkeit der Schützengräben schildern. Mit dem Triumph, den Autoren wie Ernst Jünger, Erich Maria Remarque oder Arnold Zweig feiern, kann Döblins schwieriger und umfangreicher Roman nicht mithalten.

Ganz in Vergessenheit aber gerät er nie – neben Berlin Alexanderplatz ist Wallenstein bis heute Döblins erfolgreichster Roman. Als einziges Werk des Autors wird das Buch – seiner deutschen Thematik wegen –  während des ‚Dritten Reiches‘ nicht explizit verboten. Und auch heute noch setzt dieser Text Maßstäbe dafür, wie innovativ, komplex und sprachlich virtuos sich historische Stoffe erzählerisch aneignen lassen.

Alfred Döblin: „Wallenstein“. Roman. Mit einem Nachwort von Steffan Davies. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014. 928 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90465-5.

Alfred Döblin: „Bemerkungen zum Roman“. In: „Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur“. Mit einem Nachwort von Erich Kleinschmidt. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013. 640 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90462-4. S. 122-126.

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