Overcoming Dostoevsky

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Keinen anderen Schriftsteller konnte Vladimir Nabokov so wenig ausstehen wie Fjodor Dostojewskij. Und doch hatte er den Ehrgeiz, den ungeliebten älteren Kollegen auf dessen eigenem Terrain zu schlagen. Nabokovs früher Berlin-Roman Verzweiflung erzählt die Geschichte eines Mörders, der ganz ähnlich wie Raskolnikov in Verbrechen und Strafe allmählich an seinem eigenen Wahn zugrunde geht.

Vladimir Nabokov, sicher einer der größten Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, war ein Mensch mit vielen Abneigungen. Die Liste der von ihm verachteten literarischen Autoritäten ist lang: Freud? Ein Scharlatan. Balzac? Ein Vielschreiber und „fake realist“. Thomas Mann? Ein manierierter Spießer. Faulkner? Verfasser zweifelhafter „corn-cobby chronicles“. Sartre? Noch schlimmer als Camus, ein Journalist und zweitklassiger Romancier. An keinem anderen Schriftsteller aber hat sich Nabokov so leidenschaftlich und ausführlich abgearbeitet wie an Fjodor Dostojewskij, den er „a cheap sensationalist“ nannte, „clumsy and vulgar“.

Leidende Antihelden, klischeehafte Frauenfiguren

Man zuckt heute zusammen, wenn man diese wie aus dem Ärmel geschüttelten Schmähungen liest, aber hatte der strenge Nabokov wirklich so ganz und gar unrecht? Ist Dostojewskij nicht in der Tat manchmal arg sentimental, sind seine abgründigen Antihelden nicht ein wenig zu sehr leidend und selbstquälerisch? Und dann erst die Frauenfiguren, all die klischeehaften Femme fatales und Sünderinnen, verderbt und doch im Herzen rein, die sich bereitwillig opfern, um den geliebten Mann zu erlösen. Merkt man diesen ziegelschweren Romanungeheuern des 19. Jahrhunderts nicht überdeutlich an, dass sie Produkte eines Schellschreibers sind, der die Grenze zum Kitsch nicht nur gelegentlich streift?

Erstaunlicherweise war Nabokov nicht nur hart in seinem Urteil, er hatte auch den Ehrgeiz, es besser zu machen als die herabgewürdigte Konkurrenz und sie auf ihrem eigenen Terrain zu schlagen. Den frühen Roman Verzweiflung, 1934 noch im ersten Exil Berlin veröffentlicht, kann man durchaus als Antwort auf Verbrechen und Strafe (1866) lesen. Auch hier wird die Geschichte eines Mörders erzählt, der hofft, schlau genug zu sein, um die ganze Welt zu täuschen und mit dem Verbrechen davonzukommen.

Ein wahnhafter Narzisst und Manipulator

Entscheidend sind die Unterschiede zu Dostojewskij: Der Protagonist ist hier zugleich auch Ich-Erzähler, gemordet wird nicht aus ideologischer Verirrung wie im Fall Raskolnikov, sondern schlicht des Geldes wegen. Hermann Karlowitsch, ein russischstämmiger Schokoladenfabrikant aus Berlin, ist in finanziellen Schwierigkeiten. Auf einer Geschäftsreise trifft er in Prag zufällig einen Landstreicher, der ihm – so meint er – bis aufs Haar gleicht. Er schließt Bekanntschaft mit dem vermeintlichen Doppelgänger, gewinnt sein Vertrauen und beschließt, ihn ums Leben zu bringen und die Leiche als seine eigene auszugeben. Ehefrau Lydia wird eine Weile trauern und dann nach Auszahlung einer großzügigen Lebensversicherung zu dem ins Ausland geflüchteten Hermann reisen, der inzwischen die Identität seines Opfers angenommen hat. Es soll eine zweite Hochzeit geben, Geld wird ausreichend vorhanden sein – Ende gut, alles gut. So der Plan, der natürlich nicht aufgeht.

Die Geschichte, die auf einem tatsächlichen Kriminalfall beruht, erscheint einigermaßen konventionell (und ehrlicherweise konventioneller als der Plot Dostojewskijs). Doch Nabokov wäre ja nicht Nabokov, wenn das, was diesen Roman ausmacht, nicht in Sprache und Konstruktion geschehen würde: Hermann Karlowitsch ist ein besessener Narzisst und Manipulator, dem irgendwann die ganze Welt mit seinem Wahn identisch wird (man hört hier schon ein Vorecho späterer Ungeheuer wie Humbert Humbert und Charles Kinbote). Natürlich ist dieser Erzähler unzuverlässig, und wer genau liest, erkennt recht bald, dass Hermann nicht nur seine Leser zu täuschen versucht, sondern sich auch selbst in seinem Spiegelkabinett verirrt. Die Ehe funktioniert keineswegs so reibungslos wie er annimmt und Lydia, die nicht das Dummerchen ist, das Hermann in ihr sieht, pflegt zu ihrem Cousin Ardalion möglicherweise ein mehr als nur freundschaftliches Verhältnis. Wie Raskolnikov droht auch Hermann immer tiefer im Strudel seiner Obsessionen zu versinken und langsam, aber sicher den Verstand zu verlieren.

Zeitbild der russischen Exilgemeinde

Es gibt viel zu bewundern an Nabokovs unorthodoxem und elegant erzählten Krimi, der nicht nur nebenbei ein hübsches Zeit- und Sittenbild der russischen Exilgemeinde im Zwischenkriegs-Berlin zeichnet. Das soziale Elend der Weltwirtschaftskrise, das Aufkommen der Automobile, die Diskussionen der Exilanten über Ursachen und Folgen der Revolution – all diese Realien erscheinen nicht als bloße Kulissen, sondern werden auf subtile Weise in die Handlung integriert.

Und doch geht dieser autoreflexiven und raffiniert mit intertextuellen Verweisen spielenden Prosa gerade das ab, was Dostojewskij wiederum auszeichnet: Die Wucht und das Archaische des bloßen Erzählens, das sich um narrative Finessen wenig schert, dafür aber Figuren schafft, die intensiver und lebendiger wirken als Nabokovs exquisiter Mörder. Wie gut, dass man sich als Leser:in zwischen diesen disparaten Stilen nie endgültig entscheiden muss.

Vladimir Nabokov: „Verzweiflung“. Roman. Hrg. von Dieter E. Zimmer. Deutsch von Klaus Birkenhauer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2017. Taschenbuch, 320 Seiten. ISBN 378-3-644-40347-5.

 

2 Gedanken zu „Overcoming Dostoevsky“

  1. „Freud? Ein Scharlatan. Balzac? Ein Vielschreiber und “fake realist”. Thomas Mann? Ein manierierter Spießer. Faulkner? Verfasser zweifelhafter “corn-cobby chronicles”. Sartre? Noch schlimmer als Camus, ein Journalist und zweitklassiger Romancier. An keinem anderen Schriftsteller aber hat sich Nabokov so leidenschaftlich und ausführlich abgearbeitet wie an Fjodor Dostojewskij, den er “a cheap sensationalist” nannte, “clumsy and vulgar”.“

    Das Interessante ist, dass ich alle diese Urteile nachvollziehen kann, obwohl ich die negative Bewertung nicht teile. Sie treffen die Eigenart des jeweiligen Autors, beleuchten sie aber von der schlechtesten Seite. Ähnlich ist es mit den Stifterbeschimpfungen in Bernhards „Alte Meister“.

    1. So geht es mir auch. Ja, Nabokov ist oft ungerecht, sogar bösartig. Aber seine Kritik geht nie ganz fehl. Die Frage ist halt, wie sehr man das immer vorhandene Verhältnis zwischen Schwächen und Stärken einzelner Autor:innen gewichtet.

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